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Buchrezension
Brendan Simms, Benjamin Zeeb: "Europa am Abgrund"

Von Norbert Seitz | 25.07.2016
    Visionäre Europaschwüre werden nach der Brexit-Entscheidung der Briten eher abgewunken als ernst genommen. Es gilt als reichlich illusionär, ausgerechnet jetzt, in Zeiten der mühseligen Sicherung des Zusammenhalts der EU, einen Bogen zu spannen hin zu einer politischen Union jenseits der alten Nationalstaaten. Doch Brendan Simms und Benjamin Zeeb halten unverdrossen daran fest, gerade jetzt die Chance zu ergreifen, um den befürchteten "Sturz unseres Kontinents in den politischen Abgrund" zu verhindern. Mitautor Benjamin Zeeb weist den Vorwurf des Alarmismus und der Panikmache zurück:
    "Es geht uns nicht darum, ein Schreckensszenario an die Wand zu malen. Es geht darum, darzustellen, dass wir vor einer Vielzahl von Herausforderungen stehen, die alle zusammenhängen und die alle auch eindeutig eine Konsequenz unserer fehlenden Handlungsfähigkeit sind. Das wird nicht von einem Tag auf den anderen passieren, dass sich Europa gewissermaßen selbst abschafft, aber es ist ein sehr realistisches Szenario, dass es sukzessive passiert. Letzten Endes auf eine sehr ähnliche Weise, auf die Europa ja auch entstanden ist."
    Ein Indiz für den schleichenden Niedergang sehen die Autoren in den heillosen Versuchen, Europa über ein deutsches Austeritätsprogramm in den Griff bekommen zu wollen. Es sei zur zentralen Frage der EU geworden, ob die südlichen Mitgliedsländer sich weiterhin solch restriktive Bedingungen aufbürden lassen. Die Zukunft der EU liege damit in den Händen einer relativ kleinen Zahl von südeuropäischen Wählern.
    "Man ist davon ausgegangen, dass, wenn man die Staatsausgaben nur entsprechend kürzt, dass dann sehr schnell die Differenzen, die entstehen, aufgefangen würden von privaten Investitionen. Aber das ist schlicht und ergreifend nicht geschehen. Es ist also dazu gekommen, dass der Binnenmarkt massiv eingebrochen ist, dass sich dadurch das Schuldenproblem letztlich noch vergrößert hat."
    Hinter allen Detailproblemen der gegenwärtigen Krise steht für die Verfasser der Streitschrift "die deutsche Frage", also wie man den wirtschaftlichen Giganten gleichzeitig beschränken und mit seinen immensen Potenzialen zum Wohle Europas mobilisieren kann. Die europäische Integration zumindest habe nicht zu einer Einhegung Deutschlands geführt. Deshalb sehen die Autoren für die künftige Entwicklung vier Möglichkeiten:
    "Erstens wie gewohnt: Deutschland bestimmt die Regeln der Eurozone; zweitens: ein katastrophaler Vertrauensverlust des Euro; drittens: Der Ausstieg Deutschlands aus dem Euro oder die Schaffung einer "Kernzone" mit Deutschland sowie viertens als Ausweg: Die Schaffung einer vollendeten Europäischen Union."
    "Währungsunionen sind ohne politische Unionen nicht wirklich stabil. Man braucht in irgendeiner Form automatische Transfers, die von den Überschussländern in die Länder, die halt nicht in dem gleichen Maße produktiv sind, fließen, sonst zerfliegt einem der Laden irgendwann."
    Da das derzeitige Regelwerk der EU keinen praktikablen Weg für Südeuropa kennt, scheint sich nur die radikale Alternative anzubieten: Man kehrt entweder zurück zu den Nationalstaaten mit eigener Währung und eigenen Zentralbanken ...
    "... oder man macht tatsächlich eine Transferunion, sonst werden wir alle zu Zwergen auf der Weltbühne und werden nicht in der Lage sein, tatsächlich Souveränität zurückzugewinnen, weil wir zu klein sind, um unsere Interessen global durchzusetzen."
    Für eine politische Union spricht nicht nur eine Einschränkung der strukturellen Dominanz Deutschlands, sondern auch die Unfähigkeit Europas, sich auf eine gemeinsame Haltung in innen- und weltpolitischen Fragen zu einigen.
    "Weil es keine gemeinsame Armee besitzt und auch keine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreibt, kann Europa nur schwach reagieren auf die ernst zu nehmende ideologische und militärische Herausforderung durch Putins Russland wie auch auf die vielfältigen anderen Bedrohungen wie den islamistischen Terrorismus oder das Staatsversagen in seiner südlichen Peripherie. Je lockerer die Bande, umso schwächer die Antworten auf Bedrohungen von außen."
    So fordert der paneuropäische Thinktank um Simms und Zeeb einen föderalen Eurozonen-Staat auf der Basis anglo-amerikanischer Verfassungsprinzipien. Und das heißt mit einem direkt gewählten Präsidenten an der Spitze, einer Bürgerkammer wie einem Senat und einer gemeinsamen Armee im Rahmen der NATO. Hinzu käme die Zusammenführung aller Staatsanleihen der Mitgliedstaaten zu sogenannten Unionbonds. Benjamin Zeeb:
    "Die Amerikaner haben es dadurch zum Beispiel geschafft, dass die Dynamik von Schuld und von Staatsschulden niemals zu einem Problem zwischen den Staaten wurde, sondern viel mehr zu einem integrativen Moment. Das ist aus europäischer Warte undenkbar, wo wir uns ständig immer nur als Schuldner und Gläubiger gegenüberstehen."
    "Union jetzt!" - mit dieser Losung beschwören die engagierten Autoren einen rettenden Augenblick, den sie in der derzeitigen Krise glauben entdecken zu können. Erfolgreiche staatliche Unionen seien nie im Rahmen schrittweiser Konvergenzprozesse entstanden, sondern in Krisenzeiten durch Brüche und unter verschärftem Druck.
    "Es ist eine Tendenz, die wir aus der Geschichte ableiten können. Der Versuch, über einen langen und langwierigen Prozess eine Staatenunion hinzubekommen, ist öfter schon gescheitert. Die Polen sind daran gescheitert, die Deutschen sind daran gescheitert. Und die Europäische Union ist gerade dabei, daran zu scheitern."
    Das "Project for Democratic Union" von Brendan Simms und Benjamin Zeeb verdient gewiss Respekt - zumal nach dem Brexit-Votum, das die Autoren in ihrer Betrachtung vorhergesehen haben und dessen Folgen sie realistisch beschreiben. Ihrer scharf akzentuierten Bestandsaufnahme der europäischen Krise kann man weitgehend zustimmen.
    Doch der empfohlene Befreiungsschlag mit seinem Rekurs auf die anglo-amerikanische Verfassungsgeschichte wird der kulturellen und ökonomischen Komplexität unserer Tage kaum gerecht. Denn der Druck der Historie und die Erfahrung der Eigenstaatlichkeit in Europa lassen sich wohl kaum mit der Vorgeschichte von US-Bundesstaaten vergleichen.
    Brendan Simms, Benjamin Zeeb: "Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa"
    Verlag C.H. Beck München 2016, 140 Seiten, Preis: 12,95 Euro