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Buddhist aus Protest

Am 14. Oktober 1956 trat der indische Politiker Bhimrao Ambedkar gemeinsam mit einer halben Million Dalits vom Hinduismus zum Buddhismus über – aus Protest gegen die Benachteiligung der Unberührbaren. Bis heute hält diese Übertrittsbewegung an – ebenso wie die Unterdrückung der Dalits.

Von Leila Knüppel und Nicole Scherschun | 16.10.2012
    Menschenmassen in weißer Kleidung drängen in den riesigen Kuppelbau des buddhistischen Tempels - dem Deekshabhoomi in der nordindischen Stadt Nagpur.
    Ingenieur Devidas Maiske zieht vor dem Eingang seine Schuhe aus. Betreten dürfen Besucher das Heiligtum nur barfuß.

    "In der Mitte des Marmorsaals steht eine Buddha-Statue, davor die Urne eines Nationalhelden: Dr. Ambedkar. Er war einer der Urheber der indischen Verfassung, die schon 1950 die Gleichheit aller Inder vor dem Gesetz festschrieb - gleich welcher Kaste sie angehören."

    Maiske faltet die Hände vor der Brust und verbeugt sich kurz vor dem Heiligtum. Für ihn ist Ambedkar eine Art Befreier aus der Knechtschaft des Kastenwesens.

    Denn geboren wurde Maiske als Dalit – als Kastenloser auf der untersten Stufe der traditionellen Hindu-Gesellschaft. Die Dalits gelten als unrein, dürfen kein Wasser aus dem Dorfbrunnen ziehen, keine Angehörigen höherer Kasten berühren oder ihnen Essen zubereiten - auch wenn die Verfassung diese Diskriminierung schon seit der Gründung Indiens verbietet. D. H. Maiske:

    "In einigen Dörfern wurden ganze Dalit-Familien getötet. Nicht weit von Nagpur ist das erst wieder passiert. Und warum? Weil die Tochter es wagte, in die Schule zu gehen."

    An der äußeren Erscheinung erkennt man die Dalits nicht, in Dörfern können sie ihrem Schicksal dennoch kaum entkommen. Dort kennt jeder jeden. Aber selbst in den Großstädten verfolgt sie ihre Herkunft, erzählt Devidas Maiske. In Eliteberufen arbeiten nur selten Dalits, obwohl beim Studium und im öffentlichen Dienst bereits eine Quote gilt.

    "Ich habe meinen Abschluss an einer der besten Universitäten in Indien gemacht. Ich habe auch viele Leute aus den oberen Kasten unterrichtet. Aber selbst meine Kollegen sagen nicht, dass ich ein intelligenter Mann bin, ein guter Professor, sondern dass ich zu dieser Kaste gehöre. Das ist mein ganz persönliches Beispiel von Diskriminierung."

    Selbst Bhimrao Ambedkar, Vater der Verfassung und ehemaliger Justizminister, konnte dieser Diskriminierung nicht entgehen. Einmal Dalit, immer Dalit.

    Aus Protest trat Ambedkar 1956 zum Buddhismus über. Auch Maiske, dessen Vater mit Ambedkar befreundet war, gehörte zu den Hunderttausenden, die bei der Zeremonie dabei waren.
    D. Maiske:

    "Ich war kaum drei Monate alt, als wir alle konvertierten. Meine Mutter hat mich damals mitgenommen. Später erzählte sie mir immer, wie die Leute in Massen nach Nagpur strömten – etwa 500.000."

    Vor der Stupa singen Musiker von der damaligen Massenkonversion.

    Ambedkar habe die Leute inspiriert, erzählt Maiske. Noch heute drücken sie ihre Dankbarkeit in ihren Liedern aus. Mehr als 15 Prozent der indischen Bevölkerung sind Dalits. In den Augen vieler war Ambedkar der erste, der ihnen eine Stimme gab.

    "Die meisten Leute, die 1956 nach Nagpur kamen, waren bitterarm. Doch das hinderte sie nicht daran, hierher zu kommen. Es ermutigte sie sogar. Ambedkar entzündete in ihnen wieder einen Funken, der durch das Gesellschaftssystem erloschen war. Er brachte ihn wieder zum Glühen."

    Am Stadtrand von Nagpur, weit weg von der Großstadthektik, wird Ambedkars Philosophie weitergelebt – im Nagloka Zentrum. Leiter Dharmachari Vivekratna führt seine Gäste vorbei an einer großen goldenen Buddha-Statue: 17 Meter hoch, als Erinnerung an die Massenkonversion.

    Vivekratna versucht seinen überwiegend hinduistischen Schülern, den Buddhismus nahe zu bringen. Für ihn ist diese Religion nach wie vor ein Ausweg aus der Unterdrückung des Kastenwesens. Dharmachari Vivekratna:

    "Das geht aber nicht einfach so und auch nicht über Nacht. Weil das Kastendenken so stark in der Gesellschaft verwurzelt ist. Wir brauchen einen psychologischen Wandel, einen der Ansichten, des Denkens, der Gefühle und der Bräuche. Das dauert einfach."

    Vor allem junge Dalits aus dem ganzen Land kommen ins Nagloka Zentrum. Hier lernen sie die Grundlagen des Buddhismus kennen, das Leben in der Gemeinschaft, das Meditieren. Am Nachmittag packen alle auf dem Gelände an, mähen den Rasen, reparieren die Wege.

    Der 21-jährige Nares kam vor zwei Jahren hierher. Er stammt aus Bihar – einem Bundesstaat, in dem die Dalits noch stark unter Vorurteilen leiden.
    Nares:

    "Meine Uni hat ein Picknick veranstaltet. Ich wollte beim Kochen mithelfen, aber mein Lehrer hat das verboten. Vor allen Kommilitonen sagte er: Du gehörst zu der unteren Kaste. Das war sehr beleidigend."

    Auch die 20-jährige Divya hat ähnliche Erfahrungen gemacht:

    "Das ist das Problem der Unberührbaren und des Kastenwesens. Wir dürfen nicht den Schlafwagen im Zug benutzen oder uns einfach irgendwo im Bus hinsetzen. Und selbst als Hindus dürfen wir noch nicht einmal in den Tempel. In Nagloka lerne ich so vieles und dann gehe ich zurück nach Hause und kämpfe für meine Rechte."

    Auch wenn mit dem Übertritt zum Buddhismus die Diskriminierung nicht einfach verschwindet: Die Konversion ist für viele Dalits dennoch wichtig.

    Deswegen strömen sie jedes Jahr am 14. Oktober zum Grab Ambedkars und legen Blumen vor der überlebensgroßen goldenen Büste ihres Vorbildes ab. Auch Maiske reiht sich in die lange Schlange der Ambedkar-Verehrer ein. D. Maiske:

    "Mir hat er sehr viel Selbstrespekt gegeben. Ich fühle mich befreit."

    Die gesellschaftliche Diskriminierung bleibt. Doch ihm habe der Buddhismus den Glauben an sich selbst zurückgegeben.