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Adalbert Stifter ist der paradigmatische Autor jener Epoche, die man als Biedermeier oder Restaurationszeit bezeichnet. Anders als seine Romane bieten seine Erzählungen durchaus Geschehen, Konflikte, Charaktere. Jetzt liegen sie komplett in der Fassung der Erstdrucke vor.

Von Wolfgang Schneider | 23.10.2005
    Adalbert Stifter ist der paradigmatische Autor jener Epoche, die man als Biedermeier oder Restaurationszeit bezeichnet. Äußerlich gebändigt und befriedet, innerlich voll gärender Unruhe. Ein Mensch mit extremen, destruktiven, ans Psychopathische grenzenden Zügen, der sich zu humaner Klarheit durchringen möchte. Schwermut durchzieht sein Werk, das sich oft heiterer gibt, als ihm zukommt. Die Leichtigkeit des Seins lässt sich hier nicht studieren.

    Stifters lesen - da taucht man weg in eine eigentümlich faszinierende, manchmal tief anrührende, manchmal befremdliche, verschrobene Welt. Man liest in diesen Erzählungen, die oft den Umfang kleiner Romane haben, von Waldgängern, Hagestolzen und anderen Sonderlingen, von närrischen Künstlern und heiligmäßigen Landpfarrern, von Kindern, die sich in der Einöde des winterlichen Hochgebirges lebensgefährlich verirren, aber auch von einer überraschend emanzipierten Frau wie der Titelfigur der Erzählung "Brigitta".

    Kafka verehrte Stifter, Nietzsche erholte sich bei seinem gedämpften Stil von den rauschhaften Wirkungen Wagners, heutige Beschreibungskünstler wie Peter Handke und Brigitte Kronauer schätzen ihn hoch. Thomas Bernhard hat ihn in "Alte Meister" als provinziellen Stümper und Philister geschmäht, aber das sind ziemlich platte Vorwürfe, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass gerade Bernhard in der Nachfolge Stifters steht. Man höre nur den Anfang von Stifters Erzählung "Nachkommenschaften", in der es auf durchaus komische Weise um den Gegensatz von Kunst und Wirklichkeit geht. Ein Kunst-Spott fast im monomanischen Thomas-Bernhard-Originalton:

    " So bin ich unversehens ein Landschaftsmaler geworden. Es ist entsetzlich. Wenn man in eine Sammlung neuerer Bilder geräth, welch’ eine Menge von Landschaften gibt es da; wenn man in eine Gemäldeausstellung geht, welch’ eine noch größere Menge von Landschaften trifft man da an, und wenn man alle Landschaften, welche von allen Landschaftsmalern unserer Zeit gemalt werden (von solchen Landschaftsmalern, die ihre Bilder verkaufen wollen, und von solchen, die ihre Bilder nicht verkaufen wollen) ausstellt, welch’ allergrößte Menge von Landschaften würde man da finden. (...) Und ich will nun auch noch so viele Landschaften mit Oelfarben malen, als in mein noch übriges Leben hineingehen. Ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, mein Vater ist sechsundfünfzig, mein Großvater achtundachtzig (...); mein Urgroßvater, mein Ururgroßvater und deren Großväter und Urgroßväter sind nach der Überlieferung über neunzig Jahre alt geworden: wenn ich nun auch so alt werde, und stets Landschaften male, so gehören, falls ich sie (...) einmal in Kisten sammt ihren Rahmen verpackt verführen will, fünfzehn zweispännige Wagen mit guten Rossen dazu... "

    Während Stifters Romane - "Der Nachsommer" und "Witiko" - aufgrund ihres erheblichen Umfanges und des weitgehenden Verzichtes auf Handlung etwas für Leser sind, die sich bereits mit der Stifter-Welt angefreundet haben, bieten seine 33 Erzählungen (insbesondere in den Fassungen der Erstdrucke) durchaus Geschehen, Konflikte, Charaktere. Sie machten Stifter berühmt, und in ihnen zeigt sich am deutlichsten die Entwicklung des Autors, von den an Jean Paul und der Romantik geschulten Anfängen bis hin zum äußerst spröden Spätwerk.

    Zu schreiben begann Stifter nebenbei - im Versuch, seine schon halb gescheiterte Existenz in den Griff zu bekommen. Er entstammte einfachen Verhältnissen; sein Vater war ein böhmischer Leineweber, dem die Konkurrenz englischer Stoffmanufakturen die Berufsgrundlage entzog. Daraufhin wechselte er in den Flachshandel und wurde, als der Sohn zwölf war, von einem umkippenden Transportwagen erschlagen. Der junge Stifter war ein hochbegabter Schüler; später enttäuschte er die in ihn gesetzten Erwartungen als verbummelter Jurastudent. Er interessierte sich mehr für die Naturwissenschaften und dilettierte als Landschaftsmaler.

    Wie Kafka scheute Stifter zurück vor der vollgültigen bürgerlichen Existenz mit Amt und Familie. Lange schlug er sich als Hauslehrer durch - zwischenzeitlich unterrichtete er den Sohn des allmächtigen Staatskanzlers Metternich in Mathematik und Physik. Jahr um Jahr zögerte er es hinaus, Fanny Greipl, die Liebe seines Lebens, zu heiraten. Acht Jahre wartete sie auf ihn; dann wandte sie sich einem anderen zu. Für Stifter eine verlässliche Basis für lebenslange Depressionen. Lustlos heiratete er nun seine Geliebte Amalia Mohaupt; eine Putzmacherin, die zeitlebens nicht viel Verständnis für seine Kunst entwickeln sollte. Es war eine Ehe, die Stifter mit zusammengebissenen Zähnen führte, im Zeichen von Entsagungsideen und kulinarischen Ersatzbefriedigungen. In seinen Erzählungen hat die verlorene Liebe zu Fanny ein gespenstisches Nachleben; auch unglückliche, schwierige Ehen werden immer wieder dargestellt.

    35jährig debütierte Stifter 1840 mit der Erzählung "Der Condor", mit der er sogleich Aufsehen erregte und zum Wiener Modeautor avancierte. Kein Wunder, beschrieb er in der Geschichte doch eine brisante Pionierleistung der modernen Technik: eine kühne Ballonfahrt, die eine Dame mit ihrem Begleiter unternimmt.

    Bald entwickelte Stifter sich zu einem der größten Landschaftsschilderer der deutschsprachigen Literatur. Eine Naturphantasmagorie à la Caspar David Friedrich entsteht vor unseren Augen, wenn wir die Beschreibung des Bergsees in "Der Hochwald" lesen, die mit vielen signalhaft bedrohlichen Untertönen arbeitet und damit auf die spätere Katastrophe der Geschichte vorausweist: die Zerstörung eines Ortes durch Kampfhandlungen des Dreißigjährigen Krieges:

    " Dichte Waldbestände der eintönigen Fichte und Föhre führen stundenlang vorerst aus dem Moldauthale empor, dann folgt (...) offenes Land - aber es ist eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend als tief schwarzer Erde, dem dunklen Todtenbette tausendjähriger Vegetation, darauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen blosgelegt, gewaschen und rund gerieben sind. - Ferner liegt noch da und dort das weiße Gerippe eines gestürzten Baumes und angeschwemmte Klötze. (...)

    Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, so oft ich zu dem märchenhaften See hinaufstieg. Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst... Gegenüber diesem Waldbande steigt ein Felsentheater lotrecht auf, wie eine graue Mauer, nach jeder Richtung denselben Ernst der Farbe breitend, nur geschnitten durch zarte Streifen grünen Mooses, und sparsam bewachsen von Schwarzföhren, die aber von solcher Höhe so klein herabsehen, wie Rosmarinkräutlein. Auch brechen sie häufig aus Mangel des Grundes los, und stürzen in den See hinab, daher man über ihn hinschauend der jenseitigen Wand entlang in gräßlicher Verwirrung die alten ausgebleichten Stämme liegen sieht in traurigem weiß leuchtenden Verhack die dunklen Wasser säumend. "

    Zwei Mädchen werden zum Schutz vor den Kriegswirren in eine verborgene Hütte im Hochwald gebracht. Immer wieder sehen sie von ihrer gegenwartsfernen Idylle mit dem Fernrohr hinab auf ihre Heimat und das Schloss ihres Vaters. Und eines Tages ist nur noch eine rauchende Ruine zu erkennen. Es hat Tote gegeben, aber im Fernrohr ist das menschliche Leid ins Winzige entrückt; ein Nichts gegen die monumentale Natur des Bergwaldes, die in ihrer unendlichen Gleichgültigkeit bedrohlich wirkt. Von daher ist dieser Erzähler, der gerne als früher Gewährsmann des Grünen, Ökologischen in Anspruch genommen wird, weit entfernt von einem harmonistischen Naturverständnis, in das der Mensch freundlich eingebettet wäre. Im Gegenteil, die Kommunikation zwischen Mensch und Natur erscheint bei Stifter nicht unproblematisch; das falsch verstandene Zeichen ist ein Grundelement seines Werkes. Das zeigt in der Erzählung "Abdias" die Szene, in der Abdias seinen geliebten Hund Philo erschießt, weil er ihn als tollwütig "mißdeutet" hat:

    " Es war zu einer Zeit, da sich in der Gegend Fälle von Hundswuth ergaben, dass Abdias eine Reise nachhause machte und zwar auf einem Maulthiere reitend, wie gewöhnlich von Philo begleitet. In einem Walde merkte er an dem Thiere eine besondere Unruhe, es gab unwillige Töne, es lief vor, bäumte sich..., dabei glänzten seine Augen widerwärtig, wie es Abdias nie gesehen, so dass ihm ängstliche Besorgnisse aufstiegen - zur Gewißheit aber wurden dieselben, als er zu einem kleinen flachen Wässerlein kam, und nun der Hund durchaus nicht hindurch wollte, ja an seinen Lippen einen leichten Schaum zeigte, und in heiserer Wuth nach den Füßen des Maulthieres schnappte. - Adias glaubte nun keinen Augenblick mehr verlieren zu dürfen, er nahm eine seiner berberischen Pistolen heraus und drückte sie ab - er war selbst halb blind und betäubt vor Schmerz, und sah nur noch wie das Tier taumelte und blutete. Dann ritt er in Verwirrung durch das Wasser und weiter. Erst nach einer halben Stunde merkte er seinen ungeheuren Irrthum, er vermißte nämlich mit Schreck einen Beutel mit Silbermünzen, und erinnerte sich sogleich, dass er denselben an einer Waldesstelle abgelegt und dort vergessen hatte. Er jagte zurück, das Wässerchen war sogleich erreicht, aber Philo war nicht dort, sondern nur Blutspuren - - Abdias jagte weiter, er fand die Stelle und den Gürtel - und den armen sterbenden Hund dabei, derselbe machte vor Freude unbeholfene Versuche zu wedeln, er richtete das gläserne, brechende Auge auf Abdias (...) und in einigen Minuten war er tot. "

    "Abdias" ist eine von Stifters faszinierendsten und rätselhaftesten Erzählungen, in der sinnlose Wechselfälle von Glück und Unglück dargestellt werden. Der nordafrikanische Jude Abdias ist eine Hiobsgestalt, ein schöner junger Mann, den bald die Pockenkrankheit entstellt, der bestohlen und geschlagen wird, eine unglückliche Ehe führt, bis ihm die Frau stirbt, der dann mit seiner blinden Tochter nach Europa geht, in die böhmischen Wälder. Es gehört zu den großen, anrührenden Momenten Stifters, wenn dort die Tochter auf wundersame Weise sehend wird und Abdias ihr die bisher nur ertastete Welt erklärt. Dann aber schlägt das Schicksal ein weiteres Mal unerbittlich zu: Bei einem Gewitter wird die Tochter vor den Augen des Vaters vom Blitz getötet. Der alte Mann lebt noch dreißig Jahre, von Wahnsinn umnachtet.

    Auch das Gemüt des Schulrates Stifter - in späteren Jahren kam er doch noch zu einem Amt und Brotberuf - verfinsterte sich zusehens. Enttäuscht von der Revolution 1848 und als Autor, der kompromisslos seinen eigenen Weg ging, immer angefeindeter und unverstandener, verfiel der ebenso cholerische wie korpulente Mann der Schwermut und erkrankte schließlich unheilbar an Leberzirrhose. Anfang 1868 setzte der Verfechter des "sanften Gesetzes" seinem Leben mit dem berühmten Rasiermesserschnitt durch die Kehle ein Ende. Keine Aktualisierung Stifters, die nicht mit diesem verzweifelten Selbstmord beginnt, als wäre er eine Leistung, die den Autor am ehesten für die Moderne tauglich macht.

    Nun ist es tatsächlich so, dass man Stifter gegen seine Verharmlosung in Schutz nehmen muss. Schon Friedrich Hebbel verkannte seine Werke als eine Art von putzigem Butterblumendetailrealismus; dabei schildert Stifter doch viel öfter die unheimliche, über alles Menschenmaß hinausgehende, erhabene Natur. Das vulkanische Beben unter seinen oberflächlich friedlichen Landschaften und Seelenlandschaften - Hebbel, der Dramatiker der tragischen Zuspitzung, spürte offenbar nichts davon. Vom "kosmischen Erschrecken" hat ein Stifter-Forscher gesprochen. Dieses kosmische Erschrecken macht sich in fast jeder der Erzählungen geltend. Idyllischer Schein und Verstörung - das sind die beiden Pole der Stifter-Welt.

    Obsessiv hat der Autor die inner- und außermenschlichen Elementargewalten dargestellt. Mit einer besonderen Vorliebe für Naturkatastrophen, wie den Hagelsturm in der Geschichte "Katzensilber":

    " Endlich sahen sie wie ein weißes, blinkendes Geschoß einen Hagelkern auf das Gras nieder fallen, sie sahen ihn empor springen und wieder niederfallen, und weiter kollern. Dasselbe geschah in der Nähe mit einem zweiten. Im Augenblicke kam auch der Sturm, er faßte die Büsche, dass sie rauschten, ließ einen Athemzug nach, dass alles totenstill stand, dann faßte er die Büsche neuerdings, legte sie um, dass das Weiße der Blätter sichtbar wurde, und jagte den Hagel auf sie nieder, dass es wie weiße herabsausende Blitze war. Er schlug auf das Laub, er schlug gegen das Holz, er schlug gegen die Erde, die Körner schlugen gegeneinander, dass ein Gebrülle wurde, dass man die Blitze sah, welche den Berg entflammten, aber keinen Donner zu hören vermochte. Das Laub wurde herab geschlagen, die Zweige wurden herab geschlagen, die Äste wurden abgebrochen, der Rasen wurde gefurcht, als wären eiserne Eggenzähne über ihn gegangen. Die Hagelkörner waren so groß, dass sie einen erwachsenen Menschen hätten töten können.

    Und auf den ganzen Berg und auf die Täler fiel es so nieder. Was Widerstand leistete, wurde zermalmt, was fest war, wurde zerschmettert, was Leben hatte, wurde getötet. Nur weiche Dinge widerstanden... "

    Ein Grundmotiv Stifters ist die Einsamkeit; dämonische Gewalt gewinnt sie in der Meistererzählung "Der Hagestolz". Der alte, verschrobene Junggeselle - eigentlich ist das ja ein Typ für die Komödie. Bei Stifter bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Geschildert wird eine Begegnung von Neffe und Onkel, der Pflichtbesuch eines jungen hoffnungsvollen bei einem greisenhaften verfinsterten Mann. Ein Menschenfeind, der sich in eine vergitterte Behausung auf einer Insel in einem Bergsee zurückgezogen hat. Es ist ein "Bau" im Sinne Kafkas - tatsächlich ist "Der Hagestolz" die Erzählung, die der surrealen Welt Kafkas am nächsten kommt. Im Verlauf der Tage zeigt die rätselhafte, abweisende Gestalt des Oheims hinter ihrer bösartigen Maske die Züge eines leidenden, vom Leben tief verletzten Menschen. Schließlich kommt es während eines Gewitters zu einer Aussprache, deren Nachklang Kafka möglicherweise im Kopf hatte, als er die Auseinandersetzung von Vater und Sohn im "Urteil" beschrieb. Der Hagestolz macht dem Neffen eine erschütternde Liebeswerbung und versucht ihn, seiner Muter - dem "alten Weib" - abspenstig zu machen.

    " Victor war im äußersten Grade betroffen. Der Greis saß gerade so, dass die Blitze in sein Angesicht leuchteten, und manchmal war es in dem dämmerigen Zimmer, als ob das Feuer durch die grauen Haare des Mannes flößte, und ein rieselndes Licht über die widerwärtigen Züge ginge. War dem Jünglinge früher das leere Schweigen und die todte Gleichgültigkeit öde und bekümmernd gewesen, so war ihm nun diese seltsame Erregung noch unheimlicher. Der Alte hatte seinen langen Körper im Lehnstuhle aufgerichtet. Eine Weile antwortete der Jüngling nichts, dann aber sagte er: 'Ich bekenne aufrichtig, dass es mich schon sehr unruhig machte, dass ich auf die mehreren Briefe, die ich nach Hause sandte, noch immer keine Antwort habe.’

    'Du kannst gar keine Antwort bekommen.’

    'Warum denn nicht?’

    'Weil ich es hinderte; weil ich schrieb, dass sie dir keine senden sollen. Sie sind übrigens alle gesund und wohl. Doch lassen wir das.’

    'Nein, Oheim, das lassen wir nicht! - ich weiß nicht, wozu ich hier bin..., aber nun will ich augenblicklich fort...’

    'Siehst du, wie du das alte Weib liebst?! - ich habe es immer gedacht - o ich hab’ es gedacht!’

    'Wenn ihr jemand liebtet, so würde Euch auch wieder Jemand lieben.’

    'Dich habe ich geliebt!’ schrie der Greis heraus, dass Victor fast erzitterte - und es war eine augenblickliche Stille. "

    Stifters Erzählungen sind diskret. Gerade deshalb aber verleihen sie den Momenten der Leidenschaft den Charakter des Unheimlichen und Überwältigenden. Auffallend ist bei allem objektiven Gestus ein hohes Maß an Empfindung und Sentiment, das man als typisch biedermeierlich bezeichnen kann. Kaum verwunderlich, dass Stifter vom ersten Bestseller des Realismus, Gustav Freytags "Soll und Haben", herzlich wenig hielt: er fand das Buch bis zum Ekel "kalt" gemacht. Das sind seine eigenen Werke nie.

    Gegen sein Unglück versuchte der Autor zunehmend positive Bilder glücklichen, heiteren, in sich ruhenden Daseins zu entwickeln. Je größer sein eigenes seelisches Elend wurde, desto systematischer verleugnete er es in der Literatur, desto mehr wollte er der Dichter eines vorbildlichen Lebens sein. Dieses merkwürdige Missverhältnis grundiert den ruhigen Stifter-Ton wie eine leise, aber hartnäckige Dissonanz.

    In den Erstfassungen der Erzählungen, den so genannten Journalfassungen, bricht das Fatale des Lebens freilich oft genug noch offen durch. In den späteren Überarbeitungen für die großen Erzählungssammlungen "Studien" und "Bunte Steine" hat der Autor das systematisch geglättet und gemäßigt. Metaphern und stilistische Originalität wurden zurückgenommen, um zu einer klassizistischen Einfachheit zu finden. Sowohl Journal- wie Buchfassungen haben indes ihre eigenen Reize. Die Erstfassungen wirken manchmal auch inhaltlich ein wenig moderner: Wo die jungen Leute im "Hagestolz" noch mit der Eisenbahn unterwegs sind, müssen sie sich in der überarbeiteten Fassung mit einer Kutsche begnügen. Meist sind die Erzählungen in den Buchfassungen länger geworden; die einzige Ausnahme ist die Erzählung "Die Pechbrenner", die von der Zeit der letzten Pestepidemie in Böhmen handelt. Für die Buchfassung unter dem Titel "Granit" kürzte Stifter sie radikal um einige grausame Episoden, die ihm nicht mehr zuträglich erschienen und der in den "Bunten Steinen" vertretenen Lehre vom "Sanften Gesetz" allzu offensichtlich widersprochen hätten.

    Stifter litt unter seiner Kinderlosigkeit, verherrlichte den ihm nicht gegebenen Nachwuchs nach Maßgabe des biedermeierlichen Familienideals. Die großartige Erzählung "Der Waldgänger" läuft am Ende auf ein aberwitziges Ehedrama hinaus: Da sind zwei Menschen, die meinen, mit einer kinderlosen Ehe eine Sünde zu begehen und sich deshalb kurzentschlossen und auf Nimmerwiedersehen trennen, um es mit anderen Partnern noch einmal zu versuchen - obwohl sie doch zusammen glücklich waren. Auch diese tragische Erzählung, in der Stifter viel Autobiographisches verarbeitet hat, kontrastiert die gebrechliche, verunsicherte Menschenwelt mit wuchtigen Naturschilderungen. Man hat von der "Verschleppungstechnik" des Erzählers Stifter gesprochen. Oft wirken seine Geschichten statisch, widmen sich mit aller Geduld der Beschreibung von Landschafträumen und scheinbar beiläufigen Vorgängen, bis dann mit dramatischer Schnelligkeit doch etwas Unerhörtes geschieht. "Der Waldgänger" ist das beste Beispiel dafür.

    Die letzten Erzählungen sind geprägt von formaler Abstraktion und zugleich einer Annäherung ans Lustspielhafte. Sie schildern keine dichte Wirklichkeit, sondern ein Wunschleben in höfischen Kulissen, ihr rituelles Sprechen und ihre formelhaften Beschreibungen grenzen ans Parodistische. Es sind Werke, die mit ihrer Zeit, der Epoche nach 1848, rein gar nichts mehr zu tun haben wollen. Gerade diese späten, hermetischen Erzählungen, die bei den Zeitgenossen wenig Eindruck machten, werden heute gerne als Ausweis der Modernität Stifters gelobt.

    Thomas Mann rühmte Stifter als "einen der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur". Hinter der stillen Genauigkeit seiner Naturbetrachtung sei eine "Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen wirksam", wie sie etwa in der "unvergeßlichen Schilderung des gewaltigen Dauer-Schnellfalls im Bayrischen Wald" zum Ausdruck komme. Hören wir uns das an, Adalbert Stifter, der heute 200. Geburtstag feiert, in seiner letzten autobiographischen Erzählung "Aus dem bayrischen Walde", deren Erstdruck er selbst nicht mehr erlebte:

    " An den Mauern des Hauptgebäudes sahen wir jetzt das Emporwachsen des Schnee’s. Vor unsern Fenstern war ein Berg desselben, die Thür des Hauptgebäudes war verschneit, so dass, als eine Magd sie von innen öffnete, der Schnee auf sie hinein fiel, dass sie mit hölzernen Schaufeln ausgeschaufelt werden musste. Die Mauern waren weiß und von allen Vorsprüngen und Dächern hingen die vielgestaltigsten Schneeungethüme nieder. Ich konnte nichts thun, als immer in das Wirrsal schauen. Das war kein Schneien wie sonst, kein Flockenwerfen,... sondern wie wenn Mehl von dem Himmel geleert würde, strömte ein weißer Fall nieder, er strömte aber auch wieder gerade empor, er strömte von links gegen rechts, von rechts gegen links, von allen Seiten gegen alle Seiten, und dieses Flimmern und Flirren und Wirbeln dauerte fort und fort und fort wie Stunde an Stunde verrann. Und wenn man von dem Fenster weg ging, sah man es im Geiste, und man ging lieber wieder zum Fenster. Der Sturm tobte, dass man zu fühlen meinte, wie das ganze Haus bebte. Wir waren abgeschlossen... Man konnte nur das Toben anschauen und hatte keine Ahnung, wohin das führen werde. "

    Was hat Stifter mit seinen böhmischen Anderswelten des 19. Jahrhunderts unserer postmodernen Gegenwart zu sagen? In den letzten Jahren sind überraschend aktuelle Interpretationen seines Werkes, etwa im Zeichen der Semiotik, entstanden. Und dann gibt es immer wieder Leser, denen dieser Schriftsteller mit seinen Natur- und Seelenlandschaften ein Lektüregefühl gibt, das kein anderer Autor vermitteln kann. Denn in diesen Texten ist etwas Metaphysisches. Es hat nichts mit Religion, aber wohl doch mit einer merkwürdigen Lebensfrömmigkeit und Innigkeit zu tun.

    Die 33 Erzählungen in den Erstdrucken umfassen in der Hanser-Ausgabe über 1500 Seiten: zwei bibliophile Bände, Bücher zum Genießen, mit Leineneinband, feinstem Dünndruckpapier und Fadenheftung, ergänzt um einen schlanken Anhang von knapp hundert Seiten, der neben einem Nachwort des Herausgebers Wolfgang Matz vor allem Hinweise zu den einzelnen Erzählungen enthält: Entstehungsgeschichte, Erläuterungen und jeweils eine kurze Darstellung der Umarbeitungen, wie Stifter sie später vorgenommen hat. Wer es gerne etwas weniger prächtig, dafür aber preiswerter mag, kann dieses wunderbare Basispaket Stifter übrigens auch als einbändiges Taschenbuch bei dtv bekommen.

    Adalbert Stifter. Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken.
    Herausgegeben von Wolfgang Matz
    Carl Hanser Verlag 2005, 2 Bde., zus. 1640 Seiten
    78 Euro, als dtv 29 Euro