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Geistesblitze
Der Moment der Erleuchtung

In "Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie" thematisiert Manfred Geier den wundersamen Moment eines philosophischen Geistesblitzes. Dabei schafft er es, auch schwer nachvollziehbare Persönlichkeitstypen, von Kant bis zu Nietzsche, für jeden Leser zugänglich zu machen.

Von Matthias Eckoldt | 24.07.2014
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant ("Kritik der reinen Vernunft") in einem Stich von Johann Leonhard Raab nach einem Gemälde von Gottlieb Döbler aus dem Jahr 1781.
    Der deutsche Philosoph Immanuel Kant, der seinen Geistesblitz dem französischen Philosoph Rosseau verdankt. (dpa / picture alliance / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    "Thema des Buches sind philosophische Geistesblitze, die sich in zweifacher Hinsicht abgrenzen lassen: gegenüber religiösen Erleuchtungen einerseits und wissenschaftlichen Erfindungen andererseits."
    Manfred Geier entwirft in sieben Porträts eine Typologie des spezifisch philosophischen Geistesblitzes. Der beginnt in der Regel mit einer tiefen Krisenerfahrung, in der das ganze bisher gelebte Leben infrage steht. Darauf folgt die schlagartige Erkenntnis, das blendende Licht im dunklen Wirrwarr der Gedanken. Mit ihm löst sich das Problem, das den Philosophen in die Krise gebracht hatte, mit einem Mal auf. Doch anders als beim Naturwissenschaftler oder dem Erfinder ist es mit der Ausarbeitung der nun gewonnenen gedanklichen Klarheit nicht getan. Typisch philosophisch ist, wenn der Gedanke in die Lebenswirklichkeit des Philosophen drängt und seine Art des In-der-Welt-Seins verändert.
    "Man kann das an dem Fall Rousseaus sehr deutlich machen. Er ließ sich ja, bevor ihm diese Erleuchtung kam, recht unruhig durchs Leben treiben. Und in diesem Moment liest er eine Preisfrage, die er beantworten sollte: Hat der Fortschritt der Wissenschaften zur moralischen Verbesserung der Menschheit beigetragen? Diese Frage trifft ihn im Innersten. Das ist genau das Problem, mit dem Rousseau zu tun hatte. Er hat dann diesen Geistesblitz, dass er sie eben nicht positiv beantwortet, sondern dass er sagt: Fortschritt mag da sein, das Wissen mag erweitert sein, der Zivilisationsprozess mag fortschrittlich sein, aber mit der Moral steht es nicht zum Besten. Im Gegenteil: Zivilisationsprozesse sind eigentlich Degenrationsprozesse, weil sie den Menschen zunehmend in eine Welt der Entfremdung hineintreiben."
    Rousseau gewinnt mit seiner kulturkritischen Antwort den von der Französischen Akademie der Wissenschaften ausgelobten Preis und wird über Nacht als radikaler Gesellschaftskritiker berühmt. An dieser Stelle erweist sich Rousseau in Geiers Deutung als Philosoph, da er nicht nur nicht den Versuchungen und Verstreuungen des öffentlichen Renommees erliegt, sondern im Gegenteil radikal sein Leben ändert und es nach seiner gewonnenen Einsicht einrichtet. Rousseau legt den Degen, die Perücke und die weißen Socken ab, verkauft seine Uhr und zieht sich aus der brodelnden Metropole Paris aufs Land zurück. Auch wenn seine Radikalisierung in den unruhigen Zeiten vor der Französischen Revolution schließlich zu Haftbefehl und Bücherverbrennung führt - Rousseau bleibt seiner gefundenen Linie im Denken und Leben treu.
    Erschwerte Identifizierung des Moments der Momente
    Manfred Geier spannt in seinem Buch "Geistesblitze" den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart und versucht bei jedem der porträtierten Philosophen jenen Punkt auszumachen, an dem ihn das Licht der Erkenntnis durchzuckt. Das fällt ihm nicht immer leicht. So fehlt aus naheliegenden Gründen bei dem Vorsokratiker Parmenides biografisches Material, um den Moment der Momente präzise verorten zu können. Bei Karl Popper und Immanuel Kant sind es hingegen die eher nüchternen Persönlichkeitstypen, die das philosophische Blitzerlebnis nicht leicht nachvollziehbar machen. So muss der glänzende Stilist und dramaturgisch beschlagene Erzähler Manfred Geier im Falle Kant schon ein wenig in die Trickkiste greifen, um für den Leser den Umbruch deutlich zu machen:
    "'Aber Kant ist doch immer den gleichen Weg zur gleichen Zeit gegangen. Man hätte seine Uhr danach stellen können. Doch jetzt hatte man ihn schon seit einigen Tagen nicht gesehen. Man mutmaßte, dass er krank war.'"
    Dabei war Kant, so erfährt man von Manfred Geier, lediglich so gebannt von der Lektüre von Rousseaus "Èmile", dass er die sture Absolvenz seines Tagesablaufs für ein paar Tage unterbrach. Das ekstatische intellektuelle Gewitter bleibt bei dem Königsberger Meisterdenker zwar aus, trotzdem aber vollzieht er in diesen Tagen die tief greifende Wandlung vom Naturwissenschaftler zum Erforscher der menschlichen Natur und dankt dem französischen Philosophen mit den Worten:
    "'Rousseau hat mich zurechtgebracht.'"
    Besser als Kant passt René Descartes in Geiers Typologie des philosophischen Geistesblitzes. Überliefert ist, dass Descartes sich am 10. November 1619 mit überhitztem Hirn zu Bett legte und ihm drei visionäre Träume schlagartig das Dunkel der Gedanken lichteten. Geier stellt überzeugend dar, wie sich Descartes von jener Nacht an zu einem Philosophen entwickelt, der sein Denken am Vorbild der Mathematik ausrichtet. Mit konsequentem Skeptizismus bedenkt er alles Seiende und kommt schließlich zur Einsicht, dass man über die eigene Existenz nur eines unbezweifelbar wissen kann:
    "'Ich denke, also bin ich.'"
    Auch Friedrich Nietzsche ereilte die philosophische Inspiration in Form eines blendend hellen Blitzes.
    "Diese Situation ist ja sehr genau beschrieben von ihm. Es findet statt in Sils-Maria. Wo Nietzsche am 6. August 1881 eine Idee kam. Er war in einer extremen Krise. Er dachte schon, das Leben ist zu Ende. Überall Schwärze. Er litt. Er hatte wahnsinnige Kopfschmerzen, er erbrach sich. Er war wirklich – salopp gesagt – am Ende und verneinte das Leben. Und in dieser Situation überrascht ihn die Idee, ich muss JA zum Leben sagen. Ich muss selbst das Leiden, das ich erleide, bejahen. Deswegen brauche ich ein Kriterium, um das bejahen zu können. Und das für ihn die ewige Wiederkehr. Und dieses JA blitzt bei ihm an diesem Augusttag 1881 am See von Silva Plana auf. Und deswegen wünsche ich mir auch die ewige Wiederkehr all meines Lebens, all seiner Augenblicke, um immer wieder Ja sagen zu können, weil ich es will."
    Ein neuer Blickwinkel
    Manfred Geier ist mit seinem Buch "Geistesblitze" eine andere Geschichte der Philosophie gelungen, die den unbedingten Vorteil hat, dass man sie ohne Vorkenntnisse verstehen kann. Jedes der Porträts liest sich – selbst noch wenn der Geistesblitz des Genies nicht unmittelbar präsent ist – spannend, da es Geier immer vermag, philosophische Erkenntnis und Lebenspraxis engmaschig zu verweben. So erinnert "Geistesblitze" ein wenig an jene Sternstunde, die Wilhelm Weischedel der Philosophiegeschichte mit seinem Buch "Die philosophische Hintertreppe" bescherte. Anders als jenem gelingt es Geier, nicht nur die Lebenswirklichkeit philosophischer Gedanken am Einzelfall nachzuzeichnen, sondern auch Verbindungen zwischen den Philosophen und ihren Systemen deutlich zu machen. Beispielsweise findet sich bei Karl Popper im Bezug auf die Erkenntnisfähigkeit dieselbe Denkfigur wie bei Xenophanes und Parmenides. So zeichnet Geier über zweitausendfünfhundert Jahre hinweg das Verhältnis der Philosophie zur absoluten Wahrheit nach und zeigt, dass menschliches Wissen letztlich Vermutungswissen ist. Über diese enge Verbindung von Vorsokratikern und zeitgenössischer Philosophie wird die Aufgabe des Fachs deutlich, die weniger darin besteht, Fragen zu beantworten, als vielmehr Problemhorizonte offen zu halten.
    "Die Philosophie versucht immer noch die grundlegenden Fragen zu stellen. Grundlegende Fragen, die im Leben auftauchen, aber auch grundlegende Frage, die in den Wissenschaften auftauchen. Wie lässt sich in den Wissenschaften sicheres Wissen finden. Xenophanes sagt: Gar nicht. Alles bleibt durchwebt von Vermutungen. Popper nun ist am Ende einer ganzen Entwicklung. Er sieht ja, wie groß der Fortschritt der Wissenschaften im Laufe der Geistesgeschichte war, aber er sieht auch die tiefe Wahrheit, dass trotz dieses Fortschritts in jeder Theorie immer nur Hypothesen aufgestellt werden, die mehr oder weniger plausibel sind. Man versucht zwar, die Wahrheit zu finden, aber man kann niemals gewiss sein, sie gefunden zu haben."
    Manfred Geier: "Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie"
    Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 Euro