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Bürger-Proteste und die politischen Folgen

Demonstranten haben mit dem arabischen Frühling in der islamischen Welt Umbrüche in den politischen Systemen initiiert. Vor über 20 Jahren haben Ostblockstaaten ebenfalls ihre Regime abgesetzt. Diese Umbruchsprozesse zeigen Gemeinsamkeiten.

Von Kay Müllges | 11.08.2011
    "Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind."

    Die Gründe, von denen Erich Honecker im August 1989 sprach, waren schneller beseitigt, als irgendjemand sich das damals hätte vorstellen können. Schon wenige Wochen später gab SED-Politbüromitglied Günter Schabowski seine berühmte Zettelpressekonferenz zur Öffnung der Grenze:

    "Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich!"

    Der Rest ist Geschichte. Doch kann die sich wiederholen? Sind die enormen Umbruchsprozesse in der islamischen Welt, die als arabischer Frühling begannen und uns weiterhin in Atem halten mit den Umwälzungen in Osteuropa 1989/90 vergleichbar? In gewisser Weise schon meint Professor Wolfgang Merkel, Politologe am Wissenschaftszentrum Berlin, der sich seit Jahren mit Gesellschaften im Umbruch befasst:

    "Gemeinsam ist sicherlich den Umbruchprozessen in Osteuropa und im arabischen Frühling zunächst, das die alten Regime vollständig diskreditiert waren. Die Bevölkerung hat sie nicht mehr akzeptiert. Sie hatten politisch, wirtschaftlich, aber auch sozial, völlig abgewirtschaftet."

    Damit endeten allerdings die Gemeinsamkeiten. Viel wichtiger, so Merkel, seien die gravierenden Unterschiede damals und heute. Eine sofort in’s Auge fallende Differenz sei der viel höhere Organisationsgrad der Oppositionellen in Osteuropa.

    "Die Unterschiede liegen unter anderem darin, das in Osteuropa zumindest am Beginn, in dem entscheidenden Transformationsprozess in Polen eine organisierte Kraft dahinter stand, nämlich die Solidarnosc. Und die Solidarnosc wurde zudem noch unterstützt von der katholischen Kirche. Und das sehen wir in den arabischen Ländern nicht. Das ist sehr viel stärker eine spontane Protestbewegung, die keinen organisatorischen Kern besitzt, die sich stark über die neuen elektronischen Medien Facebook, Twitter und über Handy selbst organisiert und es insofern durchaus erstaunlich ist, das sie sich über eine relativ lange Zeitperiode auch auf einem hohen Mobilisierungsniveau halten konnte."

    Gewerkschaften, Parteien oder auch die Muslimbruderschaften als eine Form des organisierten Islamismus hätten in der Jasmin-Revolution keine Rolle gespielt. Bei den Muslimbruderschaften tobe aktuell gar ein Richtungskampf zwischen Anhängern eines Gottesstaates und denen eines säkularen Islam. Diese Sicht teilt auch Loay Mudhoon. Der Politologe und Islamwissenschaftler an der Uni Köln hält die Generation der 15 bis 25-Jährigen für die treibende Kraft der arabischen Revolte. Schon lange ticke hier eine demographische Zeitbombe. Junge, oft gut ausgebildete, weltoffene Menschen rebellierten gegen die Welt der Erwachsenen, die ihnen keinerlei Chance auf sozialen Aufstieg, auf menschenwürdige Arbeit, auf politische und gesellschaftliche Mitwirkung ließe.

    "Diese Generation will das nicht mehr. Sie will auch politische Teilhabe. Und sie ist ja führungslos. Sie vollzieht, nach meiner Meinung, einen historischen Bruch mit der Herrschaft der Narrative, den Ideologien im Nahen Osten. Diese Generation ist auch ideologielos. Es entsteht im Augenblick eine neue, nicht-ideologische Generation, die sich nicht um die großen Utopien kümmert, um Islamismus, Pan-Arabismus, Ante-Kolonialismus oder Ante-Imperialismus, sondern sie konzentriert sich auf ihre Bürgerrechte."

    Im Westen würde darüber hinaus die zentrale Rolle der Frauen in den Aufbruchsprozessen der arabischen Welt oft unterschätzt:

    "Alleine die Frauen. Schauen sie ein Land wie den Jemen. Wir denken immer an den Jemen, der Jemen wär’ ein Teil des Mittelalters. Da sind die Frauen die treibende Kraft, auch mit Hijab und Niqab, also mit Vollverschleierung. Aber die Frauen wollen verändern, wollen ein neues System, wollen vor allem auch mitreden."

    Erstmals in der Geschichte des Landes hätten sich Frauen an Demonstrationen und Protesten beteiligt. Noch ist zwar völlig unentschieden, ob sich dieses Engagement in spürbaren Verbesserungen der Stellung der Frau niederschlagen wird, doch ein Anfang ist gemacht.

    Ein zweiter wesentlicher Unterschied ist die Rolle des Militärs. In Osteuropa - mit Ausnahme Rumäniens - verhielten sich die Militärs passiv. In den arabischen Ländern wirken sie, nach einigem Zaudern, entweder als Garanten des Übergangs, wie in Ägypten oder schießen auf das eigene Volk, wie in Syrien, Bahrain und Libyen. Unter solchen Bedingungen konnte sich auch in keinem arabischen Land so etwas wie ein Runder Tisch als Symbol des geregelten Machtübergangs von alten auf neue Eliten etablieren. Eine Entwicklung die Loay Mudhoon auch auf das Fehlen zivilgesellschaftlicher Strukturen zurückführt.

    "Wir haben auch nicht eine Art Schattenregierung, wie die Opposition in Osteuropa, die das Konzept des liberalen Kapitalismus übernommen hat und bereit war, damals nach 89, die Macht zu übernehmen mit Hilfe von Übergangsfiguren. Diese Strukturen fehlen im arabischen Raum. Als auch überzeugende, moderate Übergangsfiguren, die als Integrationsfiguren fungieren."

    Eine Persönlichkeit wie zum Beispiel Vaclav Havel ist in den arabischen Ländern derzeit nicht in Sicht, auch bekanntere, ältere Oppositionelle wie zum Beispiel die Ägypter Amre Mussa oder Mohammed El Baradei sprechen jeweils nur für kleine Gruppen. Und schließlich hatten die osteuropäischen Revolutionären 1989/90 einen strukturellen Vorteil, die Nachbarschaft zu den stabilen Demokratien der Europäischen Union, meint Wolfgang Merkel:

    "Aus der Forschung wissen wir, das Länder, die sich in solchen Umbruchprozessen befinden und eingebettet sind, zumindest an einer Seite, in Demokratien, die haben eine weit größere Chance sich zu demokratisieren, als jene Länder die gleichsam wie Kathedralen in der Wüste umgeben sind von autoritären oder gar totalitären Regimen."

    Zum unmittelbaren Anreiz wurde dieser Vorteil durch das klar formulierte Angebot an die osteuropäischen Länder: Wenn ihr euch demokratisiert und an die bei uns geltenden Normen anpasst, dann werdet ihr selbst zeitnah Mitglied der Europäischen Union werden können. So kam es dann ja auch. Diese Perspektive fehlt den Ländern des arabischen Frühlings völlig. Wolfgang Merkel warnt deshalb auch vor allzu optimistischen Erwartungen an die Reformprozesse dort.

    "Völlig illusionär ist das, was wir in der ersten Euphorie häufig gehört haben, nämlich das dort in dem arabischen Frühling neue Demokratien geboren werden und wir so etwas wie blühende demokratische Landschaften bald sehen werden. Man müsse nur eine ordentliche Verfassung ausarbeiten. Man müsse nur erste, freie Wahlen abhalten und dann sollen diese Länder auch beim Aufbau unterstützt werden. Genügt nicht. Wir sollten eher in Jahrzehnten denken."

    Auch in Ländern wie zum Beispiel Bulgarien oder Rumänien habe es immerhin zwei Jahrzehnte gedauert bis dort halbwegs europäischen Normen entsprechende Verhältnisse entstanden seien.