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Bürgerliche Welt und Bohème

Oskar Schmitz, 1873 in Bad Homburg geboren, war ein Dandy und Schnösel. Genau diesen Eindruck hatte der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz, als er zufällig im Marbacher Literaturarchiv auf dessen Tagebücher stieß. Doch die "intimen" Tagebücher lassen einen tiefen Blick in die Wilhelminische Zeit zu.

Von Uwe Pralle | 26.11.2006
    Man sollte eigentlich meinen, inzwischen sei alles darüber bekannt:
    Schwabing, die Bohème um 1900, Reformkleider, das Emanzipations-Getüttel in Wahnmoching, die Kosmiker und Gräfin Reventlow. Und auch, was Oscar A. H. Schmitz als Dandy und Schlüsselroman-Lieferant dieser bürgerlichen Bohème anbelangt, schien klar: Dandys hatten hierzulande nun einmal immer ein wenig den Ruf teutonischer Schwerfälligkeit, verglichen mit einem Beau Brummell und Baudelaires Theorien, während über die Bücher des literarischen Tausendsassa Oscar Adolf Hermann Schmitz schon das Urteil letzter Instanz ergangen war: so gut wie vergessen, allenfalls hier und da noch im Magazin einer Bibliothek zu finden, also zu Fischfutter geworden, Fischfutter nämlich für die dicken Karpfen der Literaturhistorie, die so zu ebenso dicken Büchern kommen.

    Unter dem Titel "Das wilde Leben der Bohème" ist nun aber plötzlich ein erster Band von Tagebüchern dieses Oscar A.H. Schmitz herausgekommen, auf die der Literaturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz eher nebenbei im Marbacher Literaturarchiv gestoßen war, nach seinem Bekunden anfangs allerdings keineswegs sonderlich angetan von dem Fund:

    Ich las die ersten Seiten und dachte, so ein Schnösel, aber so ist man halt mit Anfang Zwanzig, eitel und von sich eingenommen.

    Nachzuvollziehen ist dieser erste Eindruck ohne weiteres, wenn man sich Stellen des allerersten Tagebucheintrags vom 6. Dezember 1896 wie die folgende vor Augen führt, worin der damals 23-jährige Schmitz - wie ein heute beliebter Ausdruck lautet - mit "breiter Brust" die Arena weltmännischer Tagebuch-Gladiatoren betrat:

    Ich habe die bürgerliche Gesellschaft und die künstlerische Bohème kennen gelernt, den Kaffeehausverkehr und das Abenteuer der Straße. Vor keiner dieser Sphären hatte ich einen Ekel, vielleicht wird mir aus ihnen noch manches Schöne kommen, aber es müsste durch den Zufall kommen.
    Das Milieu an sich gibt mir nicht eher etwas Neues, bis ich nicht selbst als ein neuer, d.h. für die Augen der das Milieu Bildenden Neuer, etwa als anerkannter Künstler, wiederkomme. Das möchte ich eine kurze Zeit hindurch erleben, in einer weiteren Welt einmal zu herrschen, verehrt zu werden, wie es mir jetzt in dem kleinen Kreis um Lori Karwat geschieht.
    Ich weiß, daß es eitel ist, dies zu wünschen. Aber ich möchte diese Eitelkeit überwinden, indem ich sie erlebe.


    Wenn man nur auf den hochtrabenden Ton des sich als Weltmann und Genie auf Abruf gerierenden Schmitz achtet, entgeht indes ein für diese Tagebücher bezeichnender Unterton in jener Passage - warum nämlich hat Schmitz ausgerechnet das Wort "Ekel" benutzt, als er seine Kenntnis der bürgerlichen Welt und Bohème herausstrich? Muß man extra betonen, beim Kennenlernen solcher Sphären niemals Ekel gespürt zu haben? Oder sollte damit eine Nuance angedeutet sein, die auch in den mehrdeutigen Ausdrücken "Kaffeehausverkehr" und "das Abenteuer der Straße" mitschwingt?

    Und schon wäre man gleich auf den ersten Seiten bei einem Motiv angelangt, das den Aufzeichnungen des sich als Dandy stilisierenden Oscar A.H. Schmitz eine eigene und sogar überraschend neue Note in der reichen Memoirenliteratur aus dem Fin de siècle des 19. Jahrhunderts gibt. Denn er dringt darin immer wieder in Winkel vor, denen bürgerliche Kreise sich sonst nur im Schutz von Doppelmoral und Dunkelheit zu nähern pflegen, und die Freimütigkeit der Tagebücher ist um so erstaunlicher, als sie seine zu Lebzeiten veröffentlichten literarischen und autobiographischen Selbstportraits jetzt im Nachhinein ziemlich beschönigend, wenn nicht sogar bigott erscheinen läßt, einschließlich seiner in dem Schlüsselroman von 1912 indignierten Abrechnung mit der Bohème.

    Dass Schmitz 1896 überhaupt Tagebuch zu führen begann, hatte nicht zuletzt mit dem Einschnitt zu tun, den der frühe Tod seines Vaters ein Jahr zuvor für ihn bedeutete. 1897 schrieb er:

    Ich bin überzeugt, wenn er noch lebte, hätte ich mich in diesen 2 Jahren nicht so weit entwickeln können. Er hätte mich entweder zu allerlei Konzessionen in der Berufswahl, oder wider meinen Willen zu einem zeitweiligen Lossagen von ihm gezwungen. In letzterem Falle hätte ich auf Gelderwerb sinnen müssen.

    Nach dem plötzlichen Tod des Vaters, eines wohlhabenden Eisenbahndirektors, konnte er, zögernd und ein wenig schuldbewusst zwar, endlich seinen literarischen Ambitionen folgen. Dafür gab er die bis dahin fruchtlosen Bemühungen auf, die vorher in Heidelberg, Berlin, Leipzig und München kreuz und quer durch Rechtswissenschaft, Kunstgeschichte, Nationalökonomie und Germanistik führenden Studien mit einem Doktortitel abzuschließen.

    Der Zweck dieser Versuche war hauptsächlich, dem Wunsche meiner Familie zu willfahren, die mich als Doktor irgend einer Fakultät sehen wollte.
    Für mich war das Resultat davon (...) die Einsicht, dass meine Begabung mehr auf plötzlich ans Licht kommenden Einfällen, als auf der Methodik des Gelehrten beruht.


    Schon während des Studiums hatte Schmitz, als Ältester von vier Geschwistern in Bad Homburg und Frankfurt am Main aufgewachsen, durch die Bekanntschaft mit Karl Wolfskehl Anschluß an den George-Kreis gefunden. Nun sollte ihm das väterliche Erbe zur Unabhängigkeit einer Dichterexistenz verhelfen, und mit dem Tagebuch gab er nicht nur das Aufbruchsignal, sondern gerierte sich darin mitunter schon so, als sei sein Stern bereits aufgegangen.

    Zuallererst plante er, durch ausgedehnte Reisen nach Italien, Frankreich und England seinen Lebensstil zu verfeinern. Erste Gedichtveröffentlichungen in diesen Jahren zeigen, dass seine poetischen Ambitionen keineswegs nur Vorwand für ein mondänes Leben im damaligen Jet-Set waren. München jedenfalls, dem er 1896 vorerst den Rücken kehrte, als das lästige Kapitel Universität abgeschlossen war, um das folgende Jahr in Paris zu verbringen, erschien ihm für einen künftigen Dichter weltmännischen Formats nun unangemessen:


    In München _muß_ man dahin kommen, wo ich heute bin, zu jener Hypertrophie der Hirntätigkeit. München ist eine Stadt ohne viel Leben, mit viel künstlicher Geistigkeit; keine anmutige Erholung, immer nur Debatten im Café, ernste Konzerte und Theater. Keine wirklich geschmackvollen Chantants, Café-Häuser oder Kokotten. In der Gesellschaft bemühen wir uns, geistreiche Zirkel zu sehen, in den Cafés und Varietés genießen wir Dinge, die es hier nicht gibt. Unsere Phantasie, sowie die Reminiszenzen an Wien, Brüssel, Italien müssen nachhelfen. Alles kommt aus der Phantasie, aus dem Verstand. Es gibt nicht genug peripherische Reize, darin liegt etwas Masturbatorisches.


    Die sexuellen Untertöne tauchen in seinen verächtlichen Bemerkungen zur "künstlichen Geistigkeit" Münchens nicht zufällig auf. Dass die "Instinkte" vom "Intellektualismus" des modernen Lebens erstickt würden, gehörte im Treibhausklima der wilhelminischen Zeit ohnehin schon länger zur Phraseologie zivilisationskritischer Selbstkasteiung. Ein paar Jahre später, 1904, zeigte sich im sogenannten "Kosmiker-Streit" erstmals deutlich, dass die Aversion gegen den "zersetzenden" Intellekt starke rassistische Züge besaß - als nämlich Ludwig Klages und Alfred Schuler von Stefan George forderten, sich vom jüdischen Geist seines Getreuen Karl Wolfskehl loszusagen.

    Oscar A.H. Schmitz, mütterlicherseits ebenfalls mit jüdischen Wurzeln, schlug sich im Kosmiker-Streit ausgerechnet auf die Seite der beiden "arischen" Philosophen; auf Spuren des berüchtigten "jüdischen Selbsthasses" wird man häufiger in seinen Tagebüchern stoßen, und oft sind sie mit der sexuell getönten Furcht verbunden, dass seine Instinkte von der modernen "Zerebralität" angekränkelt seien. Sympathie erweckte es sofort in ihm, wenn er - wie 1897 in Paris - auf jemanden traf, der in ihm den gegen den Fluch der "Intellektualität" sich heroisch behauptenden Dichter und Lebemann erkannte:

    Es ist ein Mensch in mein Leben getreten, den ich fast schon Freund nennen kann, der Maler Paul Hermann. Zum ersten Mal wieder jemand, der seit München mir geistig näher kommt, indem er _hinter_ die Dinge sieht.
    Er ist viel älter als ich, aber dennoch haben wir uns gut verstanden und erkannt. Er sah in mir sofort den Instinktmenschen, der zulange die Intellektualität hat reden lassen.


    Bei seinen Welterkundungen in den Jahren zwischen 1896 und 1906 zog es den "Instinktmenschen" Schmitz allerdings gerade in jene europäischen Metropolen, die das Flair moderner Dekadenz besaßen, allen voran Paris, und der Grund war eindeutig.

    Ich bin mir ganz klar darüber: das Einzige, was mich immer wieder an die Großstadt fesselt, ist die Frau. Ohne dies Bedürfnis würde ich längst in der Einsamkeit auf dem Lande leben.

    notierte er 1897. Mit dem Wachstum der Großstädte hatte ihr Leben im 19.
    Jahrhundert auch die Nächte erobert, und Ende des Jahrhunderts waren sie ein Synonym für sexuelle Freizügigkeit. Schmitz hatte ein ausgesprochenes Faible gerade für jene Quartiere, die damals zwar noch nicht den nüchternen Namen "Rotlichtbezirke" trugen, den Instinkten aber das entsprechende Betätigungsfeld boten. Für ihn war Paris, damals Inbegriff nicht nur mondänen Lebens, sondern auch frivoler Halbwelten, etwas anderes als das "masturbatorische" München. Sehr schnell merkt man in diesen Tagebüchern, dass ihr eigentlicher roter Faden nicht so sehr die poetische Bildung, sondern der Triebhaushalt sowohl von Schmitz als auch der wilhelminischen Zeit ist. Ob in Paris, London oder Frankfurt am Main, wo er noch einige Zeit vor dem ersten langen Paris-Aufenthalt verbrachte - Bordelle und Vergnügungsviertel waren für die wilhelminische Männerwelt offenbar natürliche Schauplätze, sich ihrer intakten Instinkte zu versichern.

    Neulich Besuch von Hans Weidenbusch aus Paris, sehr anregend. (...) Wir schafften uns in der Nacht einige orientalisch polygame Freuden, wobei ich jedoch ziemlich kalt blieb, als wir alle zusammen waren, während sich die Sache vollkommen änderte als ich allein mit einer Frau im Nebenzimmer war.

    Angesichts seiner keineswegs nur sporadischen Ausflüge in die Halbwelt, ob nun in Begleitung oder allein, sah Schmitz sich hin und wieder ins Gedächtnis zu rufen genötigt, im Grunde jedoch über alledem zu stehen:

    Selbst der Ehrgeiz, der Rausch, ja die Prostitution sind für mich ganz ungefährlich, so sehr mich alles dieses im Augenblick reizen mag. Sie stören nie mein Gleichgewicht, so oft ich diesem Drängen nachgeben mag, ja, ich könnte sogar ohne Gefahr eine Zeitlang darin untertauchen und doch nie zum Trunkenbold, nie zum Stammgast im Bordell oder zum eitlen Gecken werden.

    Schwer zu sagen, ob er das wirklich selber glaubte oder es nur eine Beruhigungsformel war, weil ihm die unentwegten Spritztouren ins Milieu letztlich doch unheimlich waren oder zumindest sein hehres Selbstbild ankratzten. In seiner 1926 veröffentlichten Autobiographie jener Jahre, "Dämon Welt", hat er diese Seite seiner Existenz jedenfalls peinlich genau ausgespart. In den Tagebüchern finden sich, als er 1897 regelmäßig die Pariser Vergnügungsviertel frequentierte, dagegen zuweilen Versuche, das nächtliche Treiben zu einer funktionalen Praxis schneller Triebabfuhr herunterzuspielen:

    Merkwürdig, wie wenig mich die raffinierten Versprechungen der Kokotten reizen. Ich suche dort nur schnelle natürliche Befriedigung. Außer dieser kenne ich nur wirkliche Liebesnächte mit Frauen, zu denen man zärtlich sein kann. Mit einer Frau, bei welcher Geldentschädigung eine gewisse Rolle spielt, kann ich nicht länger zusammen sein, als die Sinne erregt sind.

    Die achszelzuckende Pose, die unablässig gesuchten Halbwelterlebnisse wie eine Sportdisziplin zum Ventil der überhitzten Sinnlichkeit zu bagatellisieren, zeigt aber, dass im Triebhaushalt nicht nur von Schmitz, sondern der wilhelminischen Männerwelt offenbar manches nicht stimmte - denn diese Tagebücher werfen genauso Licht auf diverse seiner Freunde und Bekannten wie etwa Franz Hessel, mit dem er zeitweise in Paris zusammenwohnte. Anscheinend spielte die Prostitution im Triebhaushalt nicht nur der Bohème eine weit größere Rolle als deren oft beschworene Promiskuität, und vor allem riß der geradezu zwanghafte Kult der Instinkte als damaliges Männlichkeitsritual eine tiefe Kluft zwischen Libido und Gefühlen auf.

    Manchmal blitzt in Schmitz' Notizen auf, unter welchem sexuellen Leistungsdruck sich die damalige Männerwelt fühlte, Virilität zu beweisen - wie etwa in seinem grotesk gewundenen Erklärungsversuch dafür, nicht jede attraktive Frau auch begehrenswert zu finden:

    Im Laufe der letzten Zeit erkannte ich nun, gefördert durch die Bekenntnisse anderer gleichfalls sehr erotisch veranlagter Männer, dass dieses Nichtreagieren auf jedes junge schöne Weib kein Defekt, vielmehr nur eine Verfeinerung sein muss, eine Art Zuchtwahlinstinkt, der außer der Sympathie noch einer ganz besonderen Art der Zuneigung bedarf, um die erotische Fähigkeit zu erwecken.

    Instinkte waren Pflicht, Gefühle dagegen Grenzfälle eines Defekts, sofern sie nicht durch einen "Zuchtwahlinstinkt" legitimiert waren. So offen wie bisher kaum einmal in Tagebüchern jener Zeit gibt Schmitz hier Einblicke ins männliche Innenleben, das von Furcht gepeinigt schien, in der modernen Zivilisation die ,Ursprünglichkeit' der Instinkte einzubüßen, tatsächlich aber - wie in einem Prolog zum 20. Jahrhundert - langsam seine Gefühlsfähigkeit verlor. Genau das war aber auch das Drama von Schmitz, der vom schnellen, unkomplizierten Reiz der Prostitution nicht loskam. Und wie jeden Junkie, so ließ auch ihn das, was ihn süchtig machte, von einem Extrem ins andere fallen. Mal sprach er die "Wollust" in der Weise heilig, wie sie es als Sünde im Christentum wurde:

    Durch das Christentum erst das Vampyrhafte, die Force majeure der Wollust, das Dämonische Thatsache geworden. (...) So wird bereits die gewöhnliche Cohabitation eine Art Satanismus, wenn auch im geringeren Grade, insofern der Leib ein Tempel der Seele, das heißt Gottes ist.

    Dann wiederum verdammte er die Prostitution in einem damals verbreiteten Vokabular aufs Heftigste:

    Die Prostitution ist darum so verwerflich, weil sie die Rasse verdirbt.
    Anstatt, dass das Individuum in seinen Handlungen seinen Rassetrieben folgt, tut es etwas diesen entgegengesetztes, dem bürgerlich berechnenden utilitaristischen Verstand folgend. Jede Erziehung, die das Rassige im Individuum bekämpft, führt zur Prostitution. Die Dirnen sind nur die, bei welchen diese Tendenz am sichtbarsten zu Tage tritt. Im gleichen Grade, nur verborgener, lebt sie in jedem Menschen, der etwas für Geld tut.


    Wenn man in diesen höchst affektgeladenen Tagebüchern nach Auslösern seines Dramas sucht, stößt man auf ein wiederkehrendes Muster des Scheiterns in seiner Biographie: nämlich auf das Scheitern aller seiner Liebesbeziehungen bürgerlichen Rahmens, inklusive zweier Ehen, die 1901 und 1905 innerhalb weniger Monate zu Bruch gingen. Es klingt fast zu einfach, um wahr zu sein, doch das Muster dieses Scheiterns lässt sich im Wust seiner Selbstrechtfertigungen deutlich erkennen: Schmitz hielt ein Zusammensein mit Frauen nicht aus, die eigenwillig, selbstbewusst und stark genug waren, ihm Widerstand entgegenzusetzen. Anders gesagt: wo Schmitz die Geschlechterspannung nicht durch das Machtmittel des Geldes beherrschen konnte, da versagten ihm in der Liebe die Nerven.
    Bezeichnend, wie er sich aus den beiden gescheiterten Ehen am Ende durch Geld herauskaufte.

    Für eine Else Lasker-Schüler, der er 1906 in Berlin begegnete, hatte er nur die wegwerfende Bemerkung übrig:

    Frau Else Lasker-Schüler, der furchtbarste Blaustrumpf, allerdings durch unfreiwillige Komik gemildert.

    Hinter Schmitz' unfreiwilliger Tragik, wie in einem Schraubstock zwischen Prostitution und Liebesversagen zu klemmen, steckte eine Bedrohung für das männliche Ego, die er in den reichen Zivilisationen Europas und Amerikas schon früh in Gestalt sich emanzipierender Frauen witterte und vor denen er - ja: Ekel - spürte.

    Wenn man das Pariser Leben in den Theatern und auf der Straße beobachtet, die Feuilletons und Berichte aus der Gesellschaft verfolgt, sowie einige Blicke in die moderne Literatur wirft, so muß einem der übermäßige Kultus der Frau auffallen. Es ist nicht das Widerliche, wie in Amerika, wo das Weib als höheres Wesen gilt und sich nach eigenem Gutdünken immer mehr entweibt und dadurch zu einem kraftlosen Hermaphroditismus gelangt, den die ungebildeten Männer, und das sind fast alle Amerikaner, sich gefallen lassen. Es ist immerhin etwas Weibliches, was hier im Weib verehrt wird, wenn auch meist nur das Äußere des Weibes.

    Für Männer wie Schmitz waren schwierige Zeiten angebrochen, vor denen er in der käuflichen Liebe ein letztes Asyl zu finden suchte. Es ist kein Zufall, dass er später bei allen drei Koryphäen der Psychoanalyse, bei Freud, Adler und Jung, Auswege aus der Misere suchte. Diese Tagebücher sind eine riesengroße Überraschung: "intime Tagebücher", die wie wenige zuvor tief in den Triebhaushalt der Wilhelminischen Zeit - und nicht nur von ihr - blicken lassen.

    Oscar A.H. Schmitz, Das wilde Leben der Bohème. Tagebücher. Band 1 1896
    - 1906. Herausgegeben von Wolfgang Martynkewicz. Aufbau Verlag, Berlin 2006, 539 Seiten, EUR 58,00