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Bulgarien
Stereotyper Blick auf den Balkan

Viele bulgarische Intellektuelle reagieren empfindlich, wenn demokratische Defizite und Korruptionspraktiken in ihrem Land mit einer angeblichen Balkan-Mentalität erklärt werden. Für sie ist das eine Art kolonialer Blick des Westens.

Von Dirk Auer | 10.08.2014
    Proteste in der bulgarischen Hauptstadt Sofia gegen die Regierung
    Die Proteste in Bulgarien haben zum Rücktritt der Regierung geführt. (picture alliance / dpa / Vassil Donev)
    "Ostavka, Ostavka!" - Rücktritt, Rücktritt! So haben die Demonstranten gerufen, als sie durch die Straßen Sofias gezogen sind. Und: "Wir werden die Diebe und Lügner abberufen!" Dabei ballten sich tausende Hände zu Fäusten, die gegen das Parlamentsgebäude gestreckt wurden.
    "Die Menschen protestieren gegen die Regierungsform, die wir hier in Bulgarien haben: die Oligarchie. Das bedeutet, dass wenige hundert Menschen durch ihre wirtschaftliche Macht bestimmen, wer regiert und wie regiert wird. Viele unterhalten auch enge Verbindungen zu den Medien",
    sagt Dimo Gospodinov, ein Internetaktivist, der den Protest über soziale Netzwerke ins Leben gerufen hatte - damals, vor gut einem Jahr, als die gerade erst ins Amt gekommene sozialistische Regierung eine skandalöse Personalentscheidung traf: Der Medienmogul Delyan Peevski, dem enge Beziehungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden, sollte als Chef der Nationalen Sicherheitsbehörde eingesetzt werden. Das war der sprichwörtliche Tropfen, der für viele Bulgaren das Fass zum Überlaufen brachte.
    "Dadurch hat sich gezeigt: Die Regierung dient in der Hauptsache den Interessen dieser wenigen hundert Menschen. Mit den Oligarchen bekämpfen wir also das Herz der Bestie, denn sie schöpfen die Reichtümer unseres Landes ab. Und das hat nicht erst gestern angefangen, sondern schon kurz nach Wende."
    Angebliche balkanische Eigenheit
    Dimo Gospodinov ist alt genug, um sich selbst noch an die Zeit des Übergangs vom Kommunismus zu einem wilden, ungezügelten Kapitalismus zu erinnern. Wie in kaum einem anderen Land wurden bei der Privatisierung vor allem die Interessen der ehemaligen sozialistischen Nomenklatura bedient. Und die Bande zwischen den alten Partei- und Geheimdienststrukturen und den neuen Oligarchen, deren Verbindungen bis in die Regierung reichen, sind bis heute eng, bestätigt Tihomir Bezlov. Er ist Kriminologe und Analyst des "Zentrums für Demokratieforschung" in Sofia. Aber:
    "Der Begriff Oligarch stammt ursprünglich aus Russland, in Bulgarien trifft es das Wort Vetternwirtschaft besser. Darunter versteht man, dass besonders in kleinen Ländern die Wirtschaft hauptsächlich unter Freunden und Verwandten einflussreicher Leute aufgeteilt wird. Sie kontrollieren die Preise, zum Beispiel an Tankstellen bei Versicherungsgesellschaften oder Banken. Das ist sehr typisch für alle Balkanländer. Aber nicht nur für diese."
    Tatsächlich reagieren viele bulgarische Intellektuelle empfindlich, wenn die aktuellen Probleme auf eine angebliche balkanische Eigenheit oder Kultur zurückgeführt wird. Für den Kulturwissenschaftler Aleksandar Kiossev etwa äußert sich darin noch immer ein kolonialer Blick.
    "Über den Balkan spricht man ganz gerne mit Stereotypen. Die politische Korrektheit funktioniert dort irgendwie überhaupt nicht. Und praktisch sieht man in der öffentlichen Meinung der westeuropäischen Nationen überhaupt keine Veränderung."
    Der Balkan als vormoderne Region
    Der Balkan also als eine irgendwie immer noch vormoderne Region, weil sie von kulturellen Entwicklungen wie der Aufklärung unberührt geblieben ist. In der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit es schwer haben, weil Verwandtschaftsnetzwerke schon immer wichtiger waren als die Loyalität gegenüber dem Gesetz. Für den Kulturwissenschaftler Kiossev sind solche kulturellen Erklärungen ein echtes Ärgernis. Denn immerhin sei der moderne bulgarische Staat doch praktisch zeitgleich mit dem deutschen entstanden. Und:
    "In Deutschland war es auch sehr schwer mit der Demokratie", gibt Kiossev zu bedenken.
    "Später aber, nach dem Zweiten Weltkrieg, ein gutes politisches Projekt hatte Deutschland erlaubt, sich wieder aufzubauen und sich in einem friedlichen großen europäischen Reich sich einzugliedern und sogar die Leader-Rolle zu nehmen. Das ist mit Bulgarien nicht passiert natürlich. Also vielmehr sollte man die letzten 50 Jahre in den Fokus nehmen und nicht irgendeine imaginäre Geschichte zu erklären, die nicht existiert."
    Auch der politische Analyst Dimitar Bechev hält nichts davon, demokratische Defizite und Korruptionspraktiken durch eine angebliche Balkan-Mentalität zu erklären.
    "Allerdings sehen wir, wenn wir den Balkan als Region betrachten, überall ein fundamentales Problem: Die Schwierigkeit des Staats, sich als eine neutrale Instanz zu etablieren und somit eine wirkliche Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, wie es in westlichen Gesellschaften der Fall ist. Ein anderer Faktor ist das geringe Vertrauen der Bürger gegenüber den Institutionen, aber auch Vertrauen untereinander, was es schwierig macht, kollektive Aktionen zu organisieren. Doch in Bulgarien ändert sich das ja jetzt gerade."
    "Es ist wie in einem Garten"
    Tatsächlich konnten die Demonstranten mit Juli mit einem neuen Schlachtruf aufwarten: Pobeda, pobeda - Sieg, Sieg! Die Regierung war zurückgetreten, Anfang Oktober gibt es Neuwahlen. Auf den Straßen Sofias herrscht seitdem wieder Ruhe, auch wenn die Erwartungen, dass sich bei den nächsten Wahlen tatsächlich etwas ändern wird, gering sind.
    Eine Woche nach dem Regierungsrücktritt: Im Roten Haus findet eine Diskussion statt. Es ist das einzige unabhängigen Zentrum für Kultur und kritische Debatten in Sofia. "Gibt es eine Krise der repräsentativen Demokratie?" - so lautet die rhetorische Frage an das Podium, auf dem auch Aleksandar Kiossev Platz genommen hat. Und obwohl es Sommer ist, ist der Raum bis auf den letzten Platz gefüllt. Die lang andauernden Proteste haben bei vielen vor allem jungen Menschen eine neue Lust am politischen Engagement wach gerufen - jenseits der traditionellen Parteipolitik. Und dafür könne die Bedeutung von Orten wie diesen nicht unterschätzt werden, betont Dimitar Bechev:
    "Es erfordert große Anstrengungen, hier überhaupt erst einmal eine Kultur der politischen Debatte und kritischen Reflexion zu entwickeln. Es ist weder Teil der Erziehung und Ausbildung, noch findet es in den Institutionen statt. Was wir von diesem Teil der Welt also lernen können: Dass wirkliche politische, institutionelle und soziale Veränderungen Zeit brauchen. Es ist wie in einem Garten: Man muss den Samen aussäen und dann auf die nächste Generation warten."