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Debatte um Zuzugsstopp für Flüchtlinge
"Für die meisten Kommunen ist die Aufgabe gut zu bewältigen"

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer rechnet damit, dass nur eine kleine Zahl von Kommunen einen Zuzugstopp für Flüchtlinge verhängen wird. Das Problem der Überlastung betreffe vor allem die Bundesländer ohne Wohnsitzauflage für Asylbewerber, sagte Palmer im Dlf. Seine Stadt habe die Aufgabe im Griff.

Boris Palmer im Gespräch Jörg Münchenberg | 26.03.2018
    Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen), Oberbürgermeister von Tübingen, im Rathaus von Tübingen
    Boris Palmer (Grüne) ist Oberbürgermeister von Tübingen (picture alliance/ dpa/ Christoph Schmidt)
    Jörg Münchenberg: Noch haben sich nicht viele Kommunen zu diesem Schritt entschlossen. Aber von der Interessenvertretung der eigenen kommt jetzt deutliche Unterstützung. Wenn sich Kommunen durch den Flüchtlingszuzug überfordert fühlten, dann – so hat es jetzt der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, gegenüber der Funke-Mediengruppe formuliert – könne er nur einen Aufnahmestopp empfehlen. – Am Telefon nun der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer von den Grünen. Herr Palmer, einen schönen guten Morgen.
    Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Münchenberg.
    Münchenberg: Herr Palmer, ist das ein versteckter Hilferuf, den der Städtetag da formuliert hat?
    Palmer: Ich glaube, es geht vor allem um die Bundesländer, die keine sogenannte Wohnsitzauflage erlassen haben, wo eine Sekundärbewegung stattfindet. Das heißt, die Flüchtlinge ziehen in bestimmte Gebiete, verlassen andere, und dann kann es zu Überlastungserscheinungen kommen. In Baden-Württemberg gibt es das nicht. Wir haben diese Wohnsitzauflage. Das heißt, Flüchtlinge müssen an zugewiesenen Orten und Gemeinden leben.
    Münchenberg: Trotzdem haben ja schon manche Kommunen einen Flüchtlings-Zuzugsstopp verhängt. Wie groß ist real das Problem? Herr Landsberg selbst hat ja auch ausdrücklich gesagt, man müsse sich die Gegebenheiten vor Ort genau anschauen, die Zahl der Flüchtlinge im Verhältnis zur Zahl der Bevölkerung.
    Palmer: Der entscheidende Punkt ist – das war auch immer das, was mich gestört hat -, dass die politische Debatte um fiktive Zahlen ging (Stichwort Obergrenze), und das, was im Mittelpunkt stehen müsste, nämlich das, was vor Ort geleistet werden kann, gar nicht beachtet wird. Und da gibt es natürlich Grenzen. Die sind höchst verschieden nach der Leistungsfähigkeit der Kommunen. Da geht es um die Frage, kann ich überhaupt Personal finden. Da geht es um die Bereitschaft der Bevölkerung, zum Beispiel Veränderungen der Sicherheitslage hinzunehmen, bis hin zum Wohnraum, der auch nicht herbeigezaubert werden kann. Und da gibt es Kommunen, die dann an ihrer Belastungsgrenze sind.
    "Das führt zu sozialem Unfrieden"
    Münchenberg: Würden Sie sagen, es gibt da längst einen Kampf um Kita-Plätze zum Beispiel oder auch um Wohnraum?
    Palmer: Um Wohnraum würde ich das bejahen. Wir haben in Tübingen ohnehin schon einen sehr engen Wohnungsmarkt gehabt. Andere Kommunen in Ostdeutschland sind Wegzugsregionen. Da gibt es dieses Problem dann nicht. Wir haben in Tübingen einen der zehnteuersten Wohnungsmärkte in Deutschland und es ist so, dass wir für Flüchtlinge die zugewiesene Zahl an Flüchtlingen unterbringen müssen, während Menschen mit geringen und mittleren Einkommen sich Tübingen oft nicht mehr leisten können und wegziehen müssen. Das führt zu sozialem Unfrieden. Das halte ich für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.
    Wir haben auch Schwierigkeiten, Personal zu finden für Betreuungsplätze. Noch können wir allerdings allen einen Platz gewähren. Ich habe aber allerdings auch schon gehört, dass manche Kommunen Kinder von Einheimischen abweisen, weil sie Flüchtlingen einen garantierten Platz geben. Auch so was ist natürlich für die betroffenen Eltern schwer verständlich.
    Münchenberg: Trotzdem, Herr Palmer, ist jetzt diese Aussage von Landsberg doch ein bisschen überraschend. Wenn man sich die Flüchtlingszahlen anschaut, die sind ja zuletzt deutlich zurückgegangen. Ich habe mir das noch mal angeschaut. Im Januar waren es 12.000 neue Asylsuchende, im Dezember des Vorjahres dagegen noch 13.000, im November 2017 16.000. Die Belastung nimmt doch eigentlich spürbar ab.
    Palmer: Das sehe ich genauso. Deswegen glaube ich auch, dass für die meisten Kommunen in Deutschland die Aufgabe mittlerweile gut zu bewältigen ist. Für Tübingen kann ich das bejahen und denke, aus diesem Grund ist es vor allem dort passiert, wo die Sekundärbewegung einsetzt, wo Flüchtlinge sich an wenigen Orten versammeln. Dann wird, wie Sie es zitiert haben, es in Freiberg in Sachsen schwierig. Der Kollege dort ist ja von der SPD und nicht etwa von der AfD.
    "In Europa ist nicht die Gleichverteilung das Ziel"
    Münchenberg: Kann es aber auch sein, dass manche Kommunen sich vielleicht auch drücken vor der Verantwortung und dann eher sagen, wir verhängen jetzt einen Zuzugsstopp?
    Palmer: Ausschließen kann ich das nicht. Aber nachdem ich glaube, dass es vor allem die sind, wo die Flüchtlinge sowieso schon in größerer Zahl angekommen sind, finde ich diese Erklärung unwahrscheinlich.
    Münchenberg: Nun hat ja auch Landsberg letztlich eine gerechtere Verteilung angemahnt. Da wo viele Flüchtlinge sich aufhalten in den Städten, die könnte man dann ja auch umverteilen auf andere Städte. Nun beobachten wir ja in Europa zum Beispiel, dass sich manche Länder einfach weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Könnte sich das auf der kleineren, der kommunalen Ebene jetzt wiederholen?
    Palmer: Hängt wie gesagt vom Bundesland ab. Da wo die Länder von der Wohnsitzauflage keinen Gebrauch gemacht haben, entsteht dieses Problem. Es ist tatsächlich ein Steuerungsproblem und ich kann nur hoffen, dass alle Länder die Wohnsitzauflage einführen, so wie Baden-Württemberg es gemacht hat. In Europa ist es ja offensichtlich so, dass nicht die Gleichverteilung das Ziel ist, sondern dass manche Länder überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Das kann jetzt in Deutschland nicht passieren.
    Münchenberg: Sie haben diese Wohnsitzauflage ja schon mehrfach angesprochen. Das ist ja die Verpflichtung, für eine bestimmte Zeit fest an einem Wohnsitz zu bleiben. Wie ist da jetzt die Erfahrung? In Baden-Württemberg - Sie haben es auch gesagt - gilt ja diese Verpflichtung schon. Hilft das den Kommunen?
    Palmer: Sehr gut. Wir haben deswegen ziemlich konstant über alle Gemeinden in Baden-Württemberg einen Anteil von etwa 1,3 Prozent Asylbewerbern an der Gesamtbevölkerung – nicht mehr. In Tübingen sind es dann etwa 1300 Personen auf 90.000 Einwohner. Das war schon eine sehr große Anstrengung, aber wir haben sie mittlerweile weitgehend bewältigt. Derzeit sind für fast tausend Menschen Wohnungen im Bau oder schon fertiggestellt und dadurch schaffen wir das. Aber wäre es so, dass wir zum Beispiel den doppelten Wert, zweieinhalb Prozent unterbringen müssten, dann hätte auch ich in Tübingen sagen müssen, ein Zuzugsstopp wäre vielleicht notwendig. So aber ist das nicht der Fall, weil wir diese Gleichverteilung über das Land durch die Wohnsitzauflage weitgehend hergestellt haben.
    "Kommunen haben sehr unterschiedliche Leistungskraft"
    Münchenberg: Sie haben ja auch ein Buch geschrieben, "Wir können nicht allen helfen". Das hat auch in der eigenen Partei nicht unbedingt nur für Freude gesorgt. Nun ist aber auch gerade Tübingen eher eine reiche Stadt. Wie, würden Sie sagen, hat man mittlerweile dort das Flüchtlingsproblem gehändelt? Wie ist die Stimmung in der Stadt?
    Palmer: Sie haben recht, die Kommunen haben sehr unterschiedliche Leistungskraft. Tübingen ist finanziell gut gestellt. Wir haben in dieser Hinsicht keine Probleme. Unsere größte Schwierigkeit ist der Wohnungsmarkt. Deswegen gibt es sehr, sehr stark ausgebaute Wohnungsprogramme, wo wir etwa zehn Prozent der Fördermittel des Landes Baden-Württemberg nach Tübingen geholt haben. Wir haben deswegen nächstes Jahr diese Aufgabe gelöst. Jetzt geht es vor allem um den Bildungsbereich. Ich sehe die größte Herausforderung an den Grundschulen und Gemeinschaftsschulen, denn die Flüchtlinge sind derzeit noch in sogenannten Vorbereitungsklassen, kommen aber demnächst in das Regelschulsystem und dann werden sich ganz neue Aufgaben stellen, denn natürlich sind das dann Kinder, die zusätzliche Förderung benötigen. Neues Personal ist aber praktisch nicht zu finden.
    Münchenberg: Würden Sie denn sagen, dass man quasi erst jetzt so richtig die Dimension erkennt, die in der Flüchtlingskrise steckt oder in dem Zuzug von vielen Flüchtlingen nach Deutschland?
    Palmer: In den ersten Monaten war das teilweise eine Willkommenseuphorie – nicht bei allen, aber doch mehrheitlich in Deutschland -, und jetzt tritt in diese Rollen wie nach jeder Euphorie der Kater ein. Für mich selbst ist es anders, denn ich habe die praktische Herausforderung vom ersten Tag vor Ort gespürt. Das ist auch einer der Gründe, warum ich in meiner Partei zeitweise nicht mehr ganz so viel Unterstützung hatte, weil ich sehr klar gesagt habe, wo die Probleme liegen. Denn ich denke, nur Probleme, die man anspricht, kann man auch lösen. Dadurch sind wir jetzt aber auch ein großes Stück weiter vorangekommen.
    "Große Sorgen macht mir momentan noch die Sicherheitslage"
    Münchenberg: Würden Sie denn sagen oder rechnen Sie damit, dass jetzt noch mehr Kommunen die Reißleine ziehen werden und erst mal einen Zuzugsstopp verhängen werden?
    Palmer: Ich glaube, das wird nur eine sehr kleine Zahl von Kommunen sein und überwiegend in den Ländern, in denen es keine Wohnsitzauflage gibt.
    Münchenberg: Das heißt aber, auch für Tübingen - Sie haben ja die relativ gute Lage der Stadt beschrieben, auch wirtschaftlich – wird es erst mal keinen Zuzugsstopp für Flüchtlinge geben?
    Palmer: Auf keinen Fall. Wir haben die Aufgabe weitgehend im Griff. Was mir im Moment noch große Sorgen macht, ist die Sicherheitslage. Da zeigt eine Umfrage unter der Bevölkerung, dass etwa die Hälfte der Menschen sagt, die habe sich deutlich verschlechtert in den letzten Jahren. Und leider spielt dabei eine Rolle, dass einige wenige, vielleicht ein Prozent der Flüchtlinge Intensivstraftäter geworden sind und das natürlich öffentliche Debatten auslöst, die für Verunsicherung sorgen. Deswegen habe ich ans Land appelliert, uns mit mehr Polizeikräften zu unterstützen, und wir werden auch zusätzliche Sicherheitskräfte bei der Stadt einstellen, vor allem um die gefühlte Sicherheit durch Präsenz zu verbessern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.