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Bundesentwicklungsminister Gerd Müller
Zugesagte Hilfen für Flüchtlinge einhalten

Vor dem UNO-Nothilfegipfel in Istanbul mahnte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller im DLF, die jüngst versprochenen Gelder für syrische Flüchtlinge müssten endlich ausgezahlt werden. Sonst kämen wieder mehr Menschen nach Europa. Zudem bezweifelte der CSU-Politiker, dass die Türkei die Voraussetzungen der EU zur Einführung der Visafreiheit erfüllen wird.

Gerd Müller im Gespräch mit Jasper Barenberg | 23.05.2016
    Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) im Deutschen Bundestag
    Bundesentwicklungsminister Gerd Müller: Mit Angela Merkel beim UN-Nothilfegipfel in Istanbul (dpa / Rainer Jensen)
    Das Thema Visafreiheit sei aber getrennt zu sehen von der Flüchtlingskrise. Die Türkei habe drei Millionen Menschen aufgenommen und damit einen großen Beitrag zur Stabilisierung der Lage geleistet. Zu Beginn des Jahres seien kaum noch Flüchtlinge in der Ägäis ertrunken.
    Der Minister forderte, alle Länder müssten ihre Nothilfe-Zusagen endlich einhalten. Sonst sei in den nächsten Monaten wieder mit mehreren Tausend Flüchtlingen zu rechnen. In Istanbul kommen Vertreter von rund 50 Nationen zu einem Gipfel der Vereinten Nationen zusammen, um über den steigenden Bedarf an humanitärer Hilfe zu sprechen. Müller sagte, acht bis zehn Millionen Menschen lebten seit Jahren in "erbärmlichen Unterkünften" wie Garagen und Ziegenställen. Er beklagte, seit der Geberkonferenz in London im Februar habe sich die Situation der Flüchtlinge nicht wesentlich verbessert. "Die Weltgemeinschaft muss die Zusagen von London jetzt einhalten."
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat bereits angekündigt, dass Deutschland seinen Beitrag um zehn Millionen auf dann insgesamt 50 Millionen Euro erhöhen werde. Eine ursprünglich geplante offizielle Begrüßung durch UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurde offenbar kurzfristig abgesagt.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Am Telefon ist der CSU-Politiker Gerd Müller, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wir erreichen ihn vor dem UN-Nothilfegipfel in Istanbul. Schönen guten Morgen.
    Gerd Müller: Ja, guten Morgen.
    Barenberg: Die Kanzlerin, Herr Müller, mahnt die Rechte der Kurden in der Türkei an, will mit Präsident Erdogan über die kritische Entwicklung des Landes sprechen. Sie gibt sich besorgt. Und Ihr Parteivorsitzender Horst Seehofer sagt, das reicht nicht. Hat er recht?
    Müller: Es ist ganz wichtig, dass das Gespräch mit Erdogan stattfindet, und wir sind heute in Istanbul. Das heißt, 8.000 Vertreterinnen und Vertreter aus der ganzen Welt, 50 Staats- und Regierungschefs. Das ist ein ganz starkes Signal auch an die Türkei. Hier geht es zunächst einmal jetzt um die Frage, wie schaffen wir effektive Hilfe, Überleben zu sichern für Millionen, die hier in Sichtweite der türkischen Grenze in Syrien um ihr Überleben kämpfen.
    Barenberg: Wir wollen über die Ziele des UN-Gipfels gleich noch ausführlicher sprechen, Herr Müller. Noch mal zurück zu der Auseinandersetzung mit dem türkischen Präsidenten und über das Flüchtlingsabkommen. Horst Seehofer hat gesagt, besorgt sein und reden reicht nicht. Noch mal die Frage: Hat er damit recht?
    Müller: Die Bundeskanzlerin hat sich gestern mit Vertretern der Zivilgesellschaft getroffen. Natürlich sind wir auch besorgt über die Beschlüsse, Aufhebung der Immunität im Parlament, ganz klar. Aber hier in der Türkei geht es jetzt darum, dass wir der Türkei Hilfe gewähren. Schließlich hat die Türkei mit drei Millionen Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet, aus Syrien und dem Irak hier einen großen Beitrag zur Stabilisierung der Lage beigetragen und deshalb kam es zu dieser Übereinkunft mit der Europäischen Union. Einer der Erfolge ist, dass zu Beginn dieses Jahres Menschen in der Ägäis kaum Gott sei Dank noch ertrunken sind und diese unselige Schlepperkriminalität zumindest die letzten Monate jetzt gestoppt werden konnte. Auch das muss man mal sehen.
    Viele offene Fragen in Sachen Visafreiheit mit der Türkei
    Barenberg: Die Kanzlerin unterstreicht ja auch, dass die Türkei die Zusagen des Abkommens bisher verlässlich erfüllt, und will deshalb ja auch daran festhalten. Horst Seehofer sagt aber, der Zweck heiligt nicht die Mittel. Will die CSU die Vereinbarung mit der Türkei aufkündigen?
    Müller: Man muss zwei Dinge trennen. Das eine ist der Krieg in Syrien und im Irak und die daraus entstandene Flüchtlings- und humanitäre Katastrophe, und hier gibt es ein Abkommen mit der Türkei, das auch funktioniert im jetzigen Stand, und hier müssen wir der Türkei auch Hilfe gewähren. Denn es ist besser, sich hier zu engagieren, den Menschen eine Bleibeperspektive vor Ort zu sichern, anstatt sie nach Europa zu holen, und das ist die Vereinbarung mit der Türkei.
    Das Zweite ist die Verhandlungen der Türkei in Richtung Europa, Visafreiheit, und da gibt es in der Tat viele offene Fragen und es ist noch längst nicht entschieden, ob diese Visafreiheit umgesetzt werden kann. Dazu müssen die Türken Bedingungen erfüllen, die bisher nicht erfüllt sind. Das ist die Positionierung der CSU, aber da gibt es auch in der Union, in der Koalition insgesamt Klarheit. Werden die Bedingungen nicht erfüllt, gibt es keine Visafreiheit.
    "Hilfe muss verdoppelt werden und besser koordiniert werden"
    Barenberg: Aber die Frage ist ja: Sie sagen, das sind zwei unterschiedliche Dinge. Das hat Horst Seehofer ja auch unterstrichen. Die Türkei nimmt aber beide Dinge als zusammenhängend wahr. Die gehören für die Türkei ja zusammen, die Flüchtlingsfrage und die Visafrage. Deshalb noch mal die Frage: Soll man die Zusage, die Visafreiheit für türkische Staatsbürger zu gewähren, zurücknehmen?
    Müller: An beiden Problembereichen wird gearbeitet und deshalb sind die Gespräche so wichtig. Auch an der Visafrage wird gearbeitet vonseiten der europäischen Ebene. Das wird ja ein Abkommen auf europäischer Ebene werden. Aber ich sage noch mal ganz klar: Visafreiheit wird es nur geben, wenn die Türkei alle Bedingungen erfüllt, und dies ist unabhängig zu sehen von der Frage, wie lösen wir die humanitäre Katastrophe. Wenn Sie hier in den Flüchtlingscamps und in den Städten an der türkisch-syrischen oder irakischen Grenze sind und das Leid, das Elend und die Not sehen, dann schaut die Situation etwas anders aus, auch die Bewertung aus deutscher Sicht. Hier muss den Menschen geholfen werden und nicht den politischen Diskussionen. Den Menschen hilft das nichts und deshalb haben wir diesen Nothilfegipfel. Die Hilfe muss stärker kommen, muss verdoppelt werden weltweit und wesentlich besser koordiniert werden. Ansonsten werden wir in den nächsten Monaten wieder mit Hunderttausenden von Flüchtlingen rechnen müssen.
    "Millionen Menschen leben in erbärmlichen Unterkünften"
    Barenberg: Ärzte ohne Grenzen, Herr Müller, war wesentlich beteiligt an der Vorbereitung dieses Gipfels und hat aus Protest dann über das, was sich abzeichnet, die Teilnahme abgesagt mit dem Argument, die Schwächen und die Defizite bei der akuten Nothilfe, die werden gar nicht angegangen. Wie wollen Sie diesen Vorwurf entkräften?
    Müller: Ja wenn man wegbleibt, erreicht man überhaupt nichts. Man muss diese Chance jetzt nutzen, dass 50 Länder, alle zentralen Akteure hier in der Region vertreten sind. Ich treffe mich beispielsweise jetzt mit den Amerikanern, mit dem Libanon, mit Jordanien. Wir müssen das Lagebild vor Ort erfassen, die Hilfe wesentlich verstärken und natürlich besser koordinieren. Nur so ist den Menschen, die vom Leid getroffen sind, acht bis zehn Millionen Flüchtlingen, zu helfen. Diese Menschen brauchen eine Bleibeperspektive, die Kinder brauchen Ausbildung, Schule neben den Kriegshandlungen. Man darf sich nicht vorstellen, dass überall Bombenhagel ist, sondern acht bis zehn Millionen Menschen leben in erbärmlichen Unterkünften, in Garagen, in Ziegenställen, und das nun seit vier oder fünf Jahren. Und wenn wir denen nicht effektiv durch die Weltgemeinschaft Hilfe, Zukunft zuhause anbieten - es ist auch die Rückkehr für einige bereits wieder möglich in befreiten Gebieten im Irak -, wenn wir dies nicht schaffen, die Weltgemeinschaft gemeinsam, und das muss das Signal in Istanbul sein, dann werden sich Hunderttausende aus Hoffnungslosigkeit über die Ägäis nach Europa aufmachen. Das ist nicht die Lösung.
    Barenberg: Herr Müller, zum Schluss noch kurz die Frage. In der Vergangenheit ist bekannt geworden, dass Zusagen nicht eingehalten wurden und beispielsweise das Welternährungsprogramm die Rationen kürzen musste. Wird das mit diesem Gipfel zu Ende sein?
    Müller: Das war leider einer der Auslöser und es ist wahr, die Situation hat sich nicht wesentlich verbessert seit der London-Konferenz. Und das Signal von Istanbul muss sein, wir halten unsere Versprechungen, Deutschland hält seine Versprechungen, wir gehen voran. Aber die Weltgemeinschaft muss die Zusagen von London jetzt einhalten. Nach meiner Kenntnis sind erst ein Drittel der in London zugesagten Mittel an die Hilfsorganisationen vor Ort geflossen, und dies ist inakzeptabel. Istanbul muss das klare Signal setzen, wir halten die Zusagen ein, die Weltgemeinschaft, wir erhöhen und wir heißt die Weltgemeinschaft, nicht nur Deutschland, Europa, die arabischen Staaten, aber auch die Amerikaner.
    Barenberg: Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Vielen Dank, Gerd Müller, für das Gespräch.
    Müller: Herzlichen Dank! Alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.