Aus den Feuilletons

Paris zu teuer für Dichter und Denker

Eiffelturm in Paris, im Vordergrund stehen Menschen im Gegenlicht, der Himmel ist wolkenverhangen.
Vom Geist von Paris werde derzeit doch eher "im Modus einer Vermisstenanzeige" gesprochen, so die "Welt". © AFP PHOTO / LIONEL BONAVENTURE
Von Ulrike Timm · 05.05.2017
Ob Jean Genet, Heine oder Remarque - bei dem heutigen Preisniveau hätten diese Denker wohl kaum in Paris leben können, berichet die "Welt". Als Sehnsuchtsort für Intellektuelle hat die Stadt wohl so gut wie ausgedient.
Die Denker, die Filme, der Stil: Paris war für Intellektuelle immer ein Sehnsuchtsort. Aber gibt es den noch? Felix Stephan hat sich für die WELT auf die Suche gemacht, und sein Streifzug "Auf der Suche nach dem verlorenen Geist" müht sich mächtig ab, vom Geist von Paris werde derzeit doch eher "im Modus einer Vermisstenanzeige" gesprochen. Rund ums reichlich abgewrackte nördliche Bahnhofsviertel sucht der Autor zuerst, aber da sind die Aussichten eher perdu. Rund um die Sorbonne aber träfe man sie noch, "die Verbindung von Geist und Chic".
So weit, so erwartbar, aber wenn man den gut geschriebenen Artikel deshalb gerade ungeduldig zur Seite legen will, kommt dem Autor noch dies in den Sinn:
"Wer heute an die goldenen Zeiten von Paris denkt, blendet gern aus, dass die intellektuellen Durchbrüche damals in vielen Fällen von Leuten geschultert wurden, die sich Paris heute nicht mal mehr im Traum leisten könnten. Jean Genet zum Beispiel war ein versoffener Söldner, der sich ständig prügelte und immer mit einem Bein im Gefängnis stand. Heine, Remarque und Benjamin waren Flüchtlinge und würden bei dem heutigen Preisniveau aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen den anderen Flüchtlingen mit dem Schlafsack am Gare du Nord liegen… Der Geist von Paris hat ein Preisschild bekommen und die Franzosen haben das Gefühl, dass sie es nicht mehr selbst sind, die diesen Preis festlegen, sondern andere, die Globalisierung, Ratingagenturen, … jedenfalls Instanzen von außen."

"Ni Le Pen, ni Macron"

Auch eine Begründung für die Konstellation, die am kommenden Sonntag zur Wahl steht, deren Ausgang wohl ganz Europa in Spannung versetzt. Die WELT jedenfalls widmet den Großteil ihres Feuilletons diesmal Frankreich und Paris, erkundigt sich bei jungen – Tristan Garcia – und altehrwürdigen Intellektuellen – Michel Serres – nach der Verfasstheit von französischem Geist und französischer Seele und präsentiert als Unwort der Woche mit deutlicher Entrüstung "Ni…Ni"!, Zitat: "Ni Le Pen, ni Macron" – das bedeutet schlicht, weder für Marine Le Pen noch für Emmanuel Macron stimmen zu können, bezeichnet also letztlich die fatale Bockigkeit vieler französischer Linksintellektueller, die in den letzten Tagen zum Sichenthalten aufgerufen haben. Wie kommt man nur auf die Idee, es könne eine progressive Entscheidung sein, den Wahlzettel abzugeben, "vote blanc", wenn das heißt, zu riskieren, die nächsten Jahre von einer rechtspopulistischen Präsidentin regiert zu werden? Bei aller Sympathie für kapriziöseste Antipragmatismen: blind-reaktionärer geht es nicht mehr. Bedeutete linke Intellektualität nicht mal vor allem die Fähigkeit, seine Gedanken offen und beweglich zu halten? Temps perdu…
Und damit verlassen wir die WELT, aus der wir diesmal im Doppelwhopper zitiert haben – Verzeihung, aber dafür gibt es nun mal kein französisches Pendant, und dies fette Feuilleton des Tages zum Ereignis des Wochenendes sticht einfach heraus, vier Seiten Frankreich allein in der WELT.
Schauen wir nach so viel Worten noch ein paar Bilder an. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG widmet ihre wunderbare kleine Rubrik "Großformat" jede Woche neuen, verschollenen oder unbekannten Werken, die sich fast immer selbst erklären. Heute ist es eine Liste, eine Packliste. Lauter Zeichnungen, die der Künstler Michael Beutler in seinem Notizbuch gesammelt hat. Er will auf der Biennale in Venedig eine Werft entstehen lassen, oder doch ein großes Schiff, elf Meter lang, sechs Meter hoch. Und so hat Michael Beutler alles gezeichnet, was er dazu braucht, vom Fertigteil über den Werkzeugkasten bis hin zur kleinen Schraube drin. Warum? Damit er nix vergisst. Und als Künstler "kann er sich besser vorstellen, wie gestapelt, verschnürt und verladen wird, wenn er mit dem Zeichenstift denkt", schreibt Catrin Lorch. Wie schön! Der Satz, die Zeitungsseite – und das Bild!
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