Weinstein, Spacey und Co.

Warum Vorverurteilen im Netz falsch ist

Auf dem Archivbild zu sehen ist der Schauspieler Kevin Spacey.
Für Kevin Spacey wurden die Missbrauchsvorwürfe zum existenziellen Aus. © picture alliance / dpa / Vladimir Astapkovich
Von Eva Sichelschmidt · 18.12.2017
Wer spricht heute Urteile? Gerichte. Doch bevor das geschieht, haben sich schon Tausende in den sozialen Medien zu Wort gemeldet und Stimmung gemacht, bevor die Faktenlange überprüft wurde. Wäre es nicht viel wünschenswerter, die Anklage könnte unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach der Wahrheit suchen?
Wer am Pranger steht, muss Schande und Schmähung erdulden. Die öffentliche Zurschaustellung von Pein und Peinlichkeit ist Gegenstand der Folter. Nun ist unsere Gesellschaft – nach unzähligen Jahren Big Brother und Dschungelcamp – was Scham angeht, nicht mehr so empfänglich, wie noch im sechzehnten Jahrhundert die Bevölkerung auf dem Marktplatz von Schwäbisch Hall. Das tut der unverminderten Freude am Anprangern aber keinen Abbruch.

Fesseln der Anklage

"Falling from grace" – für den Schauspieler Kevin Spacey wurden die Missbrauchsvorwürfe diverser junger Männer zum existenziellen Aus. Bereits an den Medienpranger gekettet, versuchte er sich, durch ein überflüssiges Outing aus den Fesseln der Anklage zu winden. Es nützte ihm nichts, täglich wurden neue Unappetitlichkeiten aus seinem Privat- und Berufsleben publik.
Im Fall Weinstein kam als Besonderheit noch hinzu, dass nicht nur seine vielen Opfer zu Gehör kamen, sondern auch potenziellen Mitwissern Zeugenaussagen abgenommen und medial ausgeschlachtet wurden.
Für Mitleid mit diesen genannten Angeklagten gibt es keinen Anlass. Zu widerlich ist das, was den Männern zur Last gelegt wird, zu unbestritten die Schuld der Delinquenten. Und dennoch bleibt bei der gesamten Berichterstattung der Tatbestand der Vorverurteilung.

Creative Sentencing über Allem

Im Zweifel für den Angeklagten, zumindest bis zum Urteilsspruch? Das war gestern. In der analogen Medienwelt war die Hetzjagd noch der lokalen Klatschpresse vorbehalten. Heute ist Social Media zu einem sehr effektiven World-Wide-Pranger geworden.
Abertausende Schaulustige drängen sich virtuell um den weltbekannten Angeklagten. Wie im Mittelalter bespucken sie den Schuldigen und werfen mit faulem Gemüse, in Form von Hass-Kommentaren. Erschreckend sind die Bestrafungsfantasien, die völlig unbeteiligte Beobachter entwickeln – in Amerika Creative Sentencing genannt, die drastischen Ausführungen und Verwünschungen bis hin zur Aufforderung: Bring dich doch um. Ein für allemal sollen sie weg, die Unholde aus der Medienbranche und mit ihnen auch ihr Können und ihre Kunst.
Interessant, dass es neuerdings Presse ist, die die Beweisaufnahme führt. Erst was mehrere Opfer unter Aufdeckung ihrer Identität aussagen, entspricht der Wahrheit. Ist das so? Könnte nicht ebenso gut schon wahr sein, was ein einziges Opfer behauptet, auch dann, wenn es gute Gründe haben sollte, anonym zu bleiben?

Je abgründiger der Verdacht, umso rapider die Verbreitung

In gewisser Weise hat die Zusammenrottung der passioniert empörten Zaungäste Ähnlichkeit mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien. Frei nach dem Motto: Nichts Genaues weiß man, aber vom Schlimmsten ist auszugehen. Je abgründiger der Verdacht, umso rapider die Verbreitung. Das uralte Prinzip der Nachrichtenmacher: "Sex sells" wird zum "Sex kills". Zumindest was den Ruf und die Karrieren der Angeklagten angeht.
So richtig Fahrt nimmt ein Vorwurf dann auf, wenn er sich mit einer Verschwörungstheorie paaren lässt. Es sei schon bemerkenswert, las ich unlängst, dass die bisher inkriminierten Täter der Missbrauchsvorwürfe in Hollywood allesamt aus dem linksliberalen Milieu stammen. Dass nicht die Produzenten oder Regisseure stumpfer Blockbuster-Filme angeklagt seien, sondern diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten anspruchsvolle Unterhaltung abgeliefert hätten. Was liegt hier vor? Ein berechtigter Verdacht, Zufall oder wiederum Propaganda?
Das alles ist so effektiv, wie die kollektive Hysterie von Grundschülern bei einem geübten Feueralarm. Wäre es nicht viel wünschenswerter, die Anklage könnte unter Ausschluss der Öffentlichkeit nach der Wahrheit suchen, Opfer schützen und Täter nach einem ordnungsgemäßen Prozess rechtsgültig verurteilen?

Eva Sichelschmidt, geboren 1970, wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Gesellenprüfung zur Damenschneiderin zog sie 1989 nach Berlin und machte sich mit einem Maßatelier für Braut- und Abendmoden selbstständig. Es folgten Aufträge als Kostümbildnerin bei Film und Oper. Sie ist Inhaberin des Geschäfts Whisky & Cigars, und arbeitete als Repräsentantin des Berliner Auktionshauses Grisebach für Italien. Mit ihrem Ehemann Durs Grünbein und ihren drei Töchtern lebt sie in Rom und Berlin. "Die Ruhe weg" ist ihr erster Roman.

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