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Bundeskongress Politische Bildung
Ungleichheiten in der Demokratie

Im Grundgesetz heißt es "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Und dennoch gibt es Ungleichheiten - auch in unserer Demokratie. Wie weit geht die Schere hierzulande auseinander zwischen Arm und Reich, wieviel Ungleichheit verträgt die Demokratie? Diese Fragen wurden in der Universität Duisburg-Essen diskutiert.

Von Dörte Hinrichs | 26.03.2015
    Riesenandrang am letzten Freitag an der Uni Duisburg: Es ist mehr als der studentische Alltagsbetrieb, der auf dem Campus, in den Hörsälen und Seminarräumen herrscht. Das Thema Ungleichheit bewegt die Gemüter. Zu der Veranstaltung hatten hatten der Bundesausschuss politische Bildung, die Bundeszentrale für politische Bildung und die Deutsche Vereinigung für politische Bildung Wissenschaftler eingeladen.
    Im Alten Audimax hält Prorektorin Professorin Ute Klammer die Eröffnungsrede und betont, der Kongress sei zur rechten Zeit am rechten Ort: Nämlich an einer jungen Universität, die sich als Labor sieht für die zukünftige Gesellschaft, weil hier über 50 Prozent Bildungsaufsteiger aus nichtakademischen Elternhäusern studieren.
    Doch während die Hochschule mit vielen Initiativen versucht, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen, werden auch die Ungleichheiten benannt, besonders an einem Tag wie diesem. Denn es ist der 20. März, der Tag, der als "Gender Pay Gap" alljährlich daran erinnert, wie lange Frauen hierzulande im Arbeitsjahr quasi unbezahlt arbeiten im Vergleich zu Männern. Denn Frauen verdienen in Deutschland im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Aber auch in der Bevölkerung insgesamt hat die unterschiedliche Einkommensentwicklung an Brisanz gewonnen, betont Steffen Mau, Professor für politische Soziologie an der Bremen International Graduate School of Social Sciences.
    "Wir haben eine Zunahme der Einkommensungleichheit in fast allen westlichen Ländern. Das ist durch zwei ganz wichtige OECD-Studien sehr schön gezeigt worden. Im Prinzip muss man sich da den Zeitraum angucken von Mitte der 80er-Jahre bis heute. Und da sieht man eine relativ deutliche Zunahme der Ungleichheit mit einer sich nicht weiter aufspreizenden Ungleichheitsschere seit 2005, vor allem bedingt durch Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben eine sehr starke Reduktion der Zahlen der Arbeitslosen gehabt, und dadurch auch mehr Personen, die aus Nichtbeschäftigung und prekären sozialen Lagen dann in Arbeit hineingekommen sind. Eigentlich hätte man erwarten müssen, dass dann die Ungleichheitsschere weiter zugeht, das ist nicht der Fall, vor allem dadurch bedingt, dass wir einen ziemlichen Zustrom haben auf dem Niedriglohnsektor."
    Das heißt, trotz der positiven Arbeitsmarktentwicklung hat sich die Armutsgefährdung nicht in gleichem Maße verringert. In Deutschland verdienten Mitte der 1980er Jahre die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung fünf mal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Heute verdienen sie sieben mal so viel.
    Und eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung kommt zu einem anderen brisanten Ergebnis: Die Ungleichheit der Lebenseinkommen im Vergleich der 1935 und 1972 Geborenen hat sich verdoppelt.
    Kritik an Ungleichheit, Skepsis gegenüber Umverteilung
    Doch steigt mit der gestiegenen Ungleichheit auch der Unmut unter den Betroffenen oder der politische Handlungsdruck? Einerseits gäbe es eine starke Ungleichheitskritik, konstatiert Steffen Mau, andererseits eine Art von Umverteilungsskepsis. Vermögen oder Spitzeneinkommen stärker zu besteuern oder auch Managergehälter zu begrenzen - diese Vorschläge finden letztlich keine stabilen Mehrheiten. Dabei behindert die Ungleichheit auch das ökonomische Wachstum und den Konsum.
    Interessant ist übrigens auch das Verhältnis zwischen tatsächlicher, vermuteter und gefühlter Ungleichheit: "Wenn man sagt, wie die Ungleichheit in der Gesellschaft vermutet wird, die wird überschätzt. Wenn man jetzt die gefühlte Ungleichheit daraus ableitet, wie man sich selber einordnet, dann ist sie wesentlich geringer, also die eigene Lage wird durchaus als sehr positiv bewertet. Nur es wird halt vermutet, dass wir eine sehr ungleiche Gesellschaft haben, aber es wird meiner Meinung nach dramatischer eingeschätzt, als es tatsächlich ist", Relativiert Dr. Judith Niehues vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln die Situation.
    Dabei sei es heute nicht mehr so leicht aufzusteigen, wie früher, gibt Steffen Mau zu bedenken: "Was wir derzeit sehen ist eine Verringerung von Mobilitätschancen, vor allem in Hinblick auf die glücklichen Aufsteiger, also diejenigen, die aus der Unterschicht in die Mittelschicht hineinkommen wollen. Das liegt teils an Bildung, wir haben ja 15 Prozent, die keinen Schul- oder Berufsabschluss haben, die sozusagen von vorneherein abgehängt sind, aber es liegt zum Teil auch am sozioökonomischen Hintergrund dieser Personen. Und wir haben weniger Aufstiege von der Mittelschicht in die Oberschicht oder geringeres Risiko, aus der Oberschicht dann wieder in die Mittelschicht abzusteigen."
    Abstiegsängste der Mittelschicht
    Das Ziel des Klassenerhalts, das zum Beispiel für die Vereine der 1. Fußball-Bundesliga so wichtig ist, ist auch in der Mittelschicht ausgeprägt. Abstiegsängste sind hier allgegenwärtig: Doch wer zählt eigentlich zur Mittelschicht?
    "Wenn man von einer Mittelschicht im engen Sinne sprechen möchte, dann würde das für einen Single bei einem Einkommen von 1400 Euro netto im Monat beginnen und bis 2500 Euro netto gehen. Wenn man jetzt als Paar zusammenlebt, würde man das immer mit dem Faktor 1,5 multiplizieren, mit Kindern entsprechend höher, weil einfach unterschiedliche Bedarfe sind. Und neben dieser Mittelschicht im engen Sinn gibt es auch noch untere und obere Mittelschicht, sodass man zum Beispiel nach oben hin sagen kann, der Bereich der Wohlhabenden oder oberen Mittelschicht, da kann man sagen, dass der ab 4000 Euro netto als Single aufhört. Und dann würde es darüber hinaus noch 3.5 Prozent in Deutschland an Reichen geben."
    Die Teilhabe an der Mittelschicht ist heute stärker als früher mit einem Gefühl sozialer Unsicherheit verbunden, so der Soziologe Dr. Oliver Nachtwey von der TU Darmstadt und nennt ein Beispiel: "Das heißt, man kann als Journalist durchaus ein Einkommen generieren, was der mittleren oder oberen Mittelschicht entspricht, aber gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man als freier Journalist arbeiten muss und eben nicht mehr über die betriebliche Integration verfügt und diese soziale Sicherheit, die über ein Normalarbeitsverhältnis oder eine Festanstellung vermittelt wird. Das ist etwas, was glaube ich viele als bedrohlich empfinden oder daher kommen viele Sorgen aus der Mittelschicht: Dass man sieht, der Aufstieg gelingt häufig nicht mehr ganz so leicht, man braucht viele Etappen. Und viele Leute sehen im sozialen Nahbereich den einen oder anderen Absteiger, der aus der Mittelschicht runterfällt."
    "Dazu zählen nicht nur Journalisten, dazu zählen auch Anwälte, die häufig heute auch an der Armutsgrenze leben und viele andere Berufe, wo wir solche Umgruppierungen haben. Und wir haben eine veränderte Perspektive auf das, was zukünftig noch möglich ist. Und das ist ganz wichtig, das Bild, was Menschen von ihrer eigenen Zukunft haben, hat sich verändert. Das ist zum Teil ein Ceiling-Effekt, dass man oben an der Decke angekommen ist, es geht schon sehr gut, weitere Steigerungen sind nicht sehr wahrscheinlich. Und wenn sie die Leute fragen - wir haben eine Studie dazu gemacht - 'Glauben Sie, dass Sie ihren Lebensstandard im Alter sichern können, oder glauben Sie, dass ihre Kinder ähnliche materielle Lebensbedingungen haben werden wie sie selbst?' - dann geht eine sehr große Zahl in der Mittelschicht, nicht in der Unterschicht, davon aus, dass das nicht möglich sein wird", ergänzt Steffen Mau.
    Gleichheit sorgt für politische Teilhabe
    Welche Folgen aber hat die Ungleichheit für die Demokratie? Auch diese Frage bewegte das Podium "Arm und Reich – Soziale Ungleichheit". Spannend war es zu sehen, dass zu Beispiel in Brasilien durch Armutsbekämpfungsprogramme und längeren Schulbesuch die Ungleichheit verringert wurde. Seitdem ist dort die politische Partizipation gestiegen.
    "Viele Studien über Brasilien oder Südamerika sagen, Leute nehmen Bürgerschaft in einer anderen Art und Weise wahr. Nämlich sie sehen sich zum ersten Mal als gleichberechtigte Subjekte. Und deshalb ist auch die Wahlbeteiligung dort so hoch. In Deutschland könnte man sagen, dass die steigende Ungleichheit und die Ängste zu einem gemischten Bild führen: zu Wahlenthaltung, aber auch zu neuen Protesten, wie die Occupy-Proteste, die es in Deutschland gab. Allerdings auch die Pegida-Proteste zeugen davon, dass Teile der Mittelschicht in bestimmten Regionen dazu neigen, ihre Abstiegsängste auf andere schwächere Gruppen zu projizieren."
    Die Abstiegsängste sind dabei größer als die reale Gefahr, in die Unterschicht abzurutschen. Diese Ängste, als auch verringerte Aufstiegschancen haben innerhalb Europas allerdings zu unterschiedlichen Entwicklungen geführt, so Oliver Nachtwey:
    "International gesehen finde ich es sehr spannend, was zum Beispiel in Spanien geschehen ist. Dort ist nämlich dieses Aufstiegsversprechen gar nicht mehr möglich von: Ich investiere in meine Bildung, ich lerne Fremdsprachen, ich versuche tatsächlich, mich anzustrengen. Die aktuelle spanische Generation von jungen Menschen, die war noch nie besser ausgebildet – gleichzeitig geht das Versprechen von sozialem Aufstieg über Bildung nicht mehr auf. 40 Prozent, fast 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Und dort hat sich eine neue soziale und demokratische Bewegung herausgebildet, die Indignados, die jetzt sogar eine Parteiform entwickelt haben, die Podemos-Partei, die sehr spannend ist und wahrscheinlich das europäische Parteiensystem erschüttern werden. Aber Abstiegsängste können sich auch eben in Regression und Rassismus übersetzen, was man zum Beispiel in Frankreich sieht, wo der Front National im Grunde die postindustrielle Arbeiterpartei ist. Nämlich, die saugen all die Menschen auf, die am Wohlstandversprechen nicht mehr partizipieren können."
    Das könnte zum Beispiel das gute Abschneiden der Front National bei den Departmentwahlen kürzlich in Frankreich erklären. Doch wie viel Ungleichheit verträgt eine demokratische Gesellschaft? Und welche politischen Maßnahmen können hierzulande helfen, die Ungleichheit zu verringern? Dr. Judith Niehues vom Institut der Deutschen Wirtschaft plädiert für mehr Chancengerechtigkeit durch höhere Bildungsinvestitionen - und kritisiert gleichzeitig Maßnahmen, die sich als kontraproduktiv erwiesen haben:
    "Das Betreuungsgeld war in der Hinsicht sicher nicht zielführend, weil insbesondere eine frühkindliche Bildung hilft dann Kindern aus sozial benachteiligten Familien, mehr Chancengleichheit beim Schuleintritt zu haben. Und auch die kürzlich umgesetzten Maßnahmen zum Beispiel zur Mütterrente, die sind auch nicht wirklich zielgerichtet, weil die relativ gleich verteilt sind. Da hätte man wesentlich günstiger mit wesentlich weniger Geld, bedarfsabhängige Transfers zahlen können, die zumindest aus Gleichheitsaspekten wesentlich effektiver gewesen wären."