Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Bundeskongresses für Schulpsychologie
"Präventive Arbeit wäre sehr viel sinnvoller"

Ein Schulpsychologie kommt auf über 5.000 Schüler in Großstädten und auf 15.000 Schüler in ländlichen Regionen. Mit dieser schlechten Ausstattung könne man nur reaktiv arbeiten, sagte Klaus Seifried, Leiter des Bundeskongresses für Schulpsychologie, im DLF. Dabei wäre präventive Arbeit viel sinnvoller. Auch, um hohe soziale Folgekosten zu vermeiden.

Klaus Seifried im Gespräch mit Michael Böddeker | 28.09.2016
    Schüler an einem Gymnasium sitzen nebeneinander auf einer Tischtennis-Platte.
    Schulen dabei unterstützen, dass das Klassenklima und das Schulklima insgesamt sich verbessern, das sei der Job von Schulpsychologen, so der Schulpsychologe Klaus Seifried im DLF. (dpa/Frank Rumpenhorst)
    Michael Böddeker: Die Betreuungsquote Schulpsychologe pro Schüler, die ist in Deutschland also, wie gerade gehört, relativ schlecht, zumindest im internationalen Vergleich. Mehr darüber weiß Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Er ist auch Leiter des Bundeskongresses für Schulpsychologie, der heute in Berlin beginnt. Ihn habe ich gefragt: Gibt es in Deutschland überhaupt Bundesländer, die die empfohlene Quote von 5.000 Schülern pro Schulpsychologe erreichen?
    Klaus Seifried: Man muss dazusagen, dass diese Forderung von 1973 stammt, damals hat die Kultusministerkonferenz das beschlossen. Mittlerweile gibt es einige Bundesländer – Hamburg, Berlin, das Saarland und auch Bremen –, die diesen Standard erfüllen, viele Großstädte auch, aber die Flächenstaaten sind deutlich schlechter ausgestattet.
    Böddeker: Genau im Umkehrschluss bedeutet das ja auch, in manchen Ländern sieht es dafür umso schlechter aus. Wie kommt das?
    Seifried: Das ist eine prinzipielle Unterversorgung des Bildungssystems, das ist nicht nur in der Schulpsychologie so, aber wir erleben halt, das Schulpsychologie im Moment mit dieser schlechten Ausstattung in Deutschland vor allem reaktiv arbeitet, und präventive Arbeit wäre sehr viel sinnvoller und würde auch soziale Folgekosten zum Beispiel im Jugendhilfebereich oder durch Klassenwiederholungen oder, oder, oder sparen.
    Böddeker: Selbst wenn man diese Quote nun erreichen würde, ein Schulpsychologe pro mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler, kann er sich dann auch nur um die schwersten Härtefälle kümmern?
    "Der internationale Standard ist ein multiprofessionelles Team"
    Seifried: Also ich kann es Ihnen vielleicht erläutern am Beispiel von Berlin: In Berlin ist mit vielen Großstädten an der Spitze, mit eins zu 5.000, das bedeutet aber immer noch, dass ein Schulpsychologe für zehn bis zwölf Schulen zuständig ist. Und eigentlich ist der internationale Standard an jeder größeren Schule ein Schulpsychologe im Team, im multiprofessionellen Team mit einem Sonderpädagogen und einem Schulsozialarbeiter. Das ist der Standard, den Sie zum Beispiel an Schulen in Skandinavien oder in den USA finden.
    Böddeker: Wenn Sie dieses Beispiel aus Berlin gerade bringen, was machen denn die Schulpsychologen dann dort, was schaffen die?
    Seifried: Zum Beispiel eine Sprechstunde im Moment pro Schule, und das ist schon recht viel. Lehrer fühlen sich da auch angenommen und unterstützt, nicht alleingelassen mit schwierigen Fragen. Ich will ein Beispiel nennen: Eine Lehrerin, die eine Willkommensklasse mit Flüchtlingskindern hat und dort einen hoch aggressiven Jungen hat, die kann sich das Verhalten nicht erklären, warum der in bestimmten Situationen ausrastet. Das kann sie dann mit uns besprechen.
    Ein anderes Beispiel: Ein ganz stilles Mädchen, was immer die Augen senkt und nie ein Wort sagen, auch das kann sie mit uns besprechen: Ist das eine Kinder- und jugendpsychiatrische Indikation, sind das vielleicht Anpassungsschwierigkeiten, was kann die Lehrerin tun, und vor allem, wo sind auch ihre Grenzen, wo unterstützen wir sie als Fachdienst.
    Böddeker: Ich nenne mal noch ein anderes Beispiel, das ist ein Fall von Gewalt an der Schule, der auch gerade für Aufsehen sorgt: Ein zwölfjähriger Schüler in Euskirchen, in Nordrhein-Westfalen, der wurde – so ist der aktuelle Erkenntnisstand – mutmaßlich von zwei Mitschülern angegriffen und dabei lebensgefährlich verletzt. Könnte ein Schulpsychologe in so einem Fall von Gewalt auch helfen?
    "Das Schulklima insgesamt zu verbessern"
    Seifried: Wir können natürlich Gewaltvorfälle nicht verhindern, aber wir können Schulen dabei unterstützen, dass das Klassenklima und das Schulklima insgesamt sich verbessern, und präventiv arbeiten. Und wenn wirklich Gewalt dann stattfindet, sind wir vor Ort und sprechen mit den Lehrkräften, mit der Klasse, überlegen, was man mit den Tätern tun muss und vor allem auch, wie man das Opfer schützen kann in Zukunft. Stellen Sie sich vor, dieser Junge kommt aus dem Krankenhaus zurück, soll in seine alte Klasse, da sitzen vielleicht die Täter, die ihn zusammengeschlagen haben – was passiert da? Und da braucht die Schule, da brauchen die Lehrkräfte schulpsychologische Begleitung.
    "Neue Formen von Gewalt, auf die wir reagieren müssen"
    Böddeker: Gibt es heute eigentlich insgesamt mehr Gewalt auf den Schulhöfen als früher, sodass man auch deshalb schon mehr Schulpsychologen oder vielleicht auch Schulsozialarbeiter brauchen könnte?
    Seifried: Gewalt gibt es immer. Wenn Menschen auf engem Raum zusammen sind, entstehen Konflikte. Prügeleien von Schülern gab es immer, der Punkt ist heute, dass es sich ein Stück verlagert hat, subtiler geworden ist. Denken Sie an Cyber-Mobbing: Sie bekommen SMS- oder WhatsApp-Nachrichten – du blöder Kerl, mit dir will niemand reden, du bist blöd oder irgendwelche diskriminierenden Fotos –, das sind Dinge, die neu sind, neue Formen von Gewalt, auf die wir reagieren müssen.
    Grundsätzlich muss man sagen, dass Schule ein Ort ist, der relativ gewaltfrei ist gemessen an dem, was auf der Straße oder sonst irgendwo stattfindet, und das ist auch wichtig, dass Schule hier pädagogisch gegensteuert und auch Kindern die Möglichkeit gibt, soziales Lernen zu üben, konfliktfreien Umgang miteinander.
    "Vor allem auch die Lehrkräfte brauchen unsere Beratung"
    Böddeker: Konflikte und vielleicht auch Gewalt zwischen Schülern, das ist ein Thema für Schulpsychologen, aber ist das auch das Hauptthema, oder worum geht es sonst in der täglichen Arbeit? Wir haben auch eben gehört, Flüchtlingskinder sind jetzt eine neue Herausforderung.
    Seifried: Schulpsychologie ist mit allen Fragen beschäftigt, mit allen Problemen beschäftigt, mit denen Kindern und Jugendliche auch in der Schule konfrontiert werden. Das beginnt bei den Schwierigkeiten, Lesen und Schreiben zu lernen, da gibt es Kinder, die Schulangst entwickeln oder Rechenprobleme entwickeln, da gibt es welche, die soziale Ängste entwickeln und mit Mitschülern nicht klarkommen, und es gibt auch Schülerinnen und Schüler, die hochbegabt sind und besondere Unterstützung brauchen.
    Auch viele Eltern fragen um Rat, weil sie nicht weiterwissen in der Erziehung ihrer Kinder, weil sie nicht weiterwissen, wie sie mit bestimmten Lern- oder Verhaltensproblemen umgehen sollen. Und vor allem auch die Lehrkräfte brauchen unsere Beratung, wie soll ich mich in diesem oder jenem Fall verhalten, wenn ein Schüler den Unterricht stört oder nicht mitarbeitet oder vielleicht gar nicht mehr zur Schule kommt.
    Böddeker: Wenn die Betreuungsquote Schulpsychologe pro Schüler so ist, wie sie jetzt ist in Deutschland, eben vergleichsweise schlecht, kommt es denn überhaupt noch oft dazu, dass man wirklich als Schulpsychologe mit den Schülern und mit den Eltern arbeitet, oder schafft man es meistens eher nur dann, eben die Lehrer zu schulen, damit die das vielleicht weitergeben?
    Seifried: Die Versorgungssituation ist da sehr unterschiedlich, in den Großstädten eins zu 5.000, in vielen zumindest, und Flächenstaaten wie Niedersachsen oder Sachsen eins zu 15.000. Da kann man natürlich weniger tun als in einer Großstadt, aber ich denke, wir sind vor Ort, wir sind Ansprechpartner, wir machen Sprechstunden in den Schulen, und wir sind sowohl für Lehrkräfte als auch für Eltern da und natürlich auch für Schulleitungen, wenn sie Fragen haben, wie sie ihre Schule entwickeln sollen.
    Böddeker: Sagt Klaus Seifried. Er ist Leiter des Bundeskongresses für Schulpsychologie, der heute in Berlin beginnt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.