Donnerstag, 18. April 2024

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Zweiter Weltkrieg in der Ukraine
"Ein riesiger blinder Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands"

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, kritisiert, sein Volk werde beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kaum berücksichtigt. Deutschland müsse sich seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine stellen, sagte er im Dlf. Es habe dort acht Millionen Kriegsopfer gegeben.

Andrij Melnyk im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 08.05.2020
Andrij Melnyk, Botschafter der Ukraine in Deutschland
Andrij Melnyk ist Botschafter der Ukraine in Deutschland (imago stock&people)
In vielen Ländern finden heute Gedenkveranstaltungen zum Ende des Zweiten Weltkriegs statt. Der Vernichtungs- und Eroberungskrieg, den die Deutschen begonnen hatten, kostete mehr als 60 Millionen Menschen das Leben. Aus deutscher Sicht hatte 1985 der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner mittlerweile historischen Rede eine Zäsur beim Gedenken an das Kriegsende gesetzt. Der 8. Mai 1945, sagte Weizsäcker, sei ein Tag der Befreiung – eine Bewertung, die selbst noch 1985 in Deutschland für heftige Kontroversen sorgte. Heute ist das anders, aber in vielen osteuropäischen Ländern wird der 8. Mai 1945 auch durchaus ambivalent betrachtet. So auch in der Ukraine. Andrij Melnyk ist Botschafter der Ukraine in Deutschland und er sagt: Im historischen Gedächtnis Deutschlands herrsche in Bezug auf die Gräueltaten der Nazi-Barbarei in der Ukraine ein riesiger blinder Fleck.
"Jedes fünfte Opfer in Europa ein Ukrainer"
Jörg Münchenberg: Herr Melnyk, der 8. Mai 1945, welchen Stellenwert hat dieser Tag in der Ukraine?
Andrij Melnyk: Das ukrainische Volk musste einen sehr hohen Blutzoll im Zweiten Weltkrieg entrichten. Wir haben mindestens acht Millionen Kriegsopfer zu beklagen, darunter über fünf Millionen Zivilisten, Frauen und Kinder, die im deutschen Vernichtungskrieg von der SS oder Wehrmacht ermordet wurden. Diese schrecklichen Zahlen schließen auch 1,6 Millionen ukrainische Juden ein, die im beinahe vergessenen Holocaust durch Kugeln von den Nazis umgebracht wurden.
Am 8. Mai gedenken wir auch 2,4 Millionen Frauen und Männer, die als sogenannte Ostarbeiter aus der besetzten Ukraine ins Dritte Reich verschleppt wurden, wo sie, als Untermenschen versklavt, schwerste Arbeit verrichten mussten und sehr oft daran starben. Wir werden auch nie 400.000 Ukrainer vergessen, die als Häftlinge deutscher KZ-Lager erniedrigt und ausgebeutet wurden. Jeder zweite von ihnen wurde hingerichtet. Das gesamte Gebiet der Ukraine, die zwischen 1939 und 1944 von der Wehrmacht okkupiert war, wurde von der Besatzungsherrschaft total verwüstet: 700 Städte, 28.000 Dörfer, 300.000 Fabriken.
Die Ukraine verlor im deutschen Vernichtungskrieg ein Viertel ihrer Bevölkerung. Von etwa 40 Millionen Kriegstoten in Europa war jedes fünfte Opfer ein Ukrainer oder eine Ukrainerin. Leider sind diese Tatsachen in der deutschen Öffentlichkeit bis heute wenig bekannt und es besteht daher noch ein riesiger blinder Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands in Bezug auf diese Gräueltaten der Nazi-Barbarei in der Ukraine. Deutschland muss sich seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine stellen und diese dunkelsten Kapitel ihrer Geschichte endlich aufarbeiten.
Die deutschen Wehrmachts-Offiziere Hans-Jürgen Stumpff, Wilhelm Keitel und Hans-Georg von Friedeburg unterzeichnen in Karlshorst am 7. Mai 1945 die Kapitualtion der Deutschen Wehrmacht.
Vor 75 Jahren - Als der Zweite Weltkrieg in Europa endete
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Nach fünfeinhalb Jahren schwiegen die Waffen. Die deutsche Wehrmacht musste in die bedingungslose Kapitulation einwilligen - und die Urkunde gleich zweimal unterzeichnen.
Denkmal für ukrainische Opfer gefordert
Münchenberg: Nun findet ja heute das zentrale Gedenken in Berlin statt: Ende des Zweiten Weltkrieges, Ende der Nazi-Herrschaft. Speziell die Rolle der Ukraine, wird das in diesen Gedenkveranstaltungen zu wenig gewürdigt, Ihrer Sicht nach?
Melnyk: Meine Landsleute waren schockiert, ehrlich gesagt, als sie gestern den Leitbeitrag von Bundesaußenminister Heiko Maas zu diesem Jubiläumsjahr im "Spiegel"-Magazin gelesen haben. Kein einziges Mal wird in diesem Artikel die Ukraine erwähnt, also gar nicht, und schon wieder ist die Rede von Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die UDSSR ist vor 30 Jahren zusammengebrochen. Diese Bezeichnung, aber auch vor allem diese Herangehensweise sind für uns Ukrainer beleidigend, eine Ohrfeige.
Das würde ungefähr so klingen, dass das Dritte Reich unter anderem auch fünf Millionen Ukrainer ermordet hat, aber das ist doch gar nicht erwähnenswert in einem Leitartikel zum Thema Kriegsende. Deswegen haben wir bis heute sehr höflich, vielleicht zu höflich unsere deutschen Freunde und Partner gebeten, ein Denkmal für diese acht Millionen ukrainischen NS-Opfer im Zentrum Berlins zu errichten. Bis jetzt gab es leider keine Reaktion. Von nun an werden wir nicht mehr bitten, sondern fordern, dass diese ukrainischen Opfer des deutschen Versklavungskrieges endlich würdig geehrt werden.
"Es geht auch um die Gegenwart"
Münchenberg: Herr Botschafter, lassen Sie mich da kurz einhaken. Die Große Koalition hat sich ja festgeschrieben, sie wollen das Gedenken an die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Dialog mit den osteuropäischen Nachbarn stärken. So heißt es da allgemein. Da stellt sich aber schon die Frage: Soll man das Gedenken an jede einzelne Nation praktizieren, oder soll man an alle Opfer denken? Wie soll das funktionieren?
Melnyk: Das ist eine sehr, sehr gute Frage und wir waren sehr froh, als wir damals im Koalitionsvertrag gelesen haben, dass diese Vereinbarung von den beiden Parteien getroffen wurde. Seitdem habe ich vergeblich versucht, diese Idee zu eruieren. Ich habe immer wieder im Bundestag hier in Berlin gefragt, was machen wir jetzt, wie machen wir das, und bis heute war die Antwort sehr ambivalent.
Wir wollen nicht in einen Wettbewerb, was die Opferzahlen betrifft, eintreten. Das wäre geradezu zynisch. Aber trotzdem glauben wir, dass die Historiker ein Konzept vorschlagen könnten, wo jede Nation ihren Platz findet, wo es wirklich darum geht, um den Schmerz, den jedes Volk im Zweiten Weltkrieg erlitten hat, und das ist keine Frage für mich. Ich würde mir wünschen, dass diese Wissenslücken gefüllt werden, denn es geht nicht nur um die Geschichte. Es geht leider für uns Ukrainer auch um die Gegenwart. Diese Geschichte wird zu oft manipuliert, und wir haben heute jetzt einen neuen Krieg mit über 14.000 in der Ostukraine, der nie aufhört. Tag und Nacht wird geschossen. Deswegen hoffen wir nach wie vor, dass eine Lösung, eine elegante Lösung gefunden wird, damit die Ukraine und andere Nationen, die gelitten haben, die Weißrussen, die Balten, ein Gefühl haben, dass diese Erinnerung tatsächlich wichtig ist, dass sie bewahrt wird und dass sie auch wach gehalten wird.
Russische Militärfahrzeuge rollen während einer Probe zwei Tage vor der Militärparade zum Tag des Sieges über den Roten Platz. 
"Tag des Sieges" in Russland
In Russland haben sich zwei Millionen Menschen landesweit für die Aktion "Unsterbliches Regiment" registriert. Die Parade fällt wegen der Coronakrise aus, zum Gedenken an das Kriegsende wollen sie sich aber mit Porträts ihrer Vorfahren, die im Krieg kämpften, auf ihre Balkone stellen und singen.
"Unsere polnischen Freunde haben das verdient"
Münchenberg: Herr Melnyk, es gibt in Berlin ja auch eine Debatte über speziell ein Denkmal, das an Polen erinnern soll, auch an die Gräueltaten, die von den Nazis in Polen gemacht worden sind. Die Frage ist ja schon: Soll es für jedes einzelne Land oder muss es da ein Denkmal geben, oder wäre nicht ein Dokumentationszentrum an die deutsche Besatzung in Osteuropa der bessere Weg? Das haben ja auch Historiker vorgeschlagen.
Melnyk: Ich glaube, dass beide Optionen möglich sind. Das muss die deutsche Politik entscheiden. Wir glauben, dass das eine das andere nicht ausschließen sollte. Ich glaube, dass auch unsere polnischen Freunde das verdient haben, ein Denkmal hier in Berlin zu haben, denn dieses Gefühl in der Bevölkerung – das spüre ich auch fast jeden Tag hier in Berlin -, dieses Gefühl, was die Polen durchgemacht haben in diesem Krieg, was die Ukrainer erlebt haben, dieses Gefühl fehlt zum großen Teil.
Deswegen: Ich würde dafür plädieren, dass jede Nation, die gelitten hat, ein würdiges kleines Denkmal errichtet bekommt, wo man an diesem heutigen Tag, am 8. Mai auch gedenken kann. Wir laden immer ein zum sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten. Auch heute in zwei Stunden wird diese Zeremonie stattfinden mit den Vertretern der Regierung. Der Bürgermeister, Herr Müller wird kommen. Aber meine baltischen Kollegen, etwa der Botschafter aus Lettland, sie werden nicht kommen, weil das ein Ehrenmal für die sowjetischen Soldaten ist, und für die Balten war das ein Zeichen der Eroberung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.