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Sinnsuche in Frankreich
Jesus macht Yoga, Allah übt Achtsamkeit

Seit 1905 sind in Frankreich Staat und Kirche per Gesetz getrennt. Doch während die Religion für viele Franzosen im Alltag aktuell kaum eine Rolle spielt, boomen Yoga, Spiritualität und Co. Das beweist auch eine neue interkonfessionelle Organisation, die sich im laizistischen Frankreich auf Sinnsuche begibt.

Von Suzanne Krause | 10.09.2018
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    Yoga statt Beten: Zwei von fünf Franzosen interessieren sich für das Thema Spiritualität. ( Avrielle Suleiman I Unsplash)
    Ein sommerlicher Sonntagmorgen in Paris. Im S-Bahn-Abteil plaudern ein gutes Dutzend Studierende und junge Berufstätige. Sie gehören zum Verein "Coexister", der 2009 von jungen Franzosen als interkonfessionelle Organisation gegründet wurde. "Coexister" versammelt Christen, Juden, Muslime, Buddhisten sowie Personen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen. Gemeinsam setzen sie sich für einen besseren gesellschaftlichen Zusammenhalt ein. Der Verein hat landesweit schon in 45 Städten lokale Gruppen mit insgesamt 2.300 Mitgliedern aufgebaut.
    Mehrere Pariser Ortsgruppen laden heute zu einer 'spirituellen Wanderung' in das Vallée de Chevreuse, ein beliebtes Ausflugsziel südlich von Paris. Organisatorin Caroline Kaufmann hält einen Stapel Blätter in der Hand: Fotokopien spiritueller Texte, geistiges Menü für die Mittagspause.
    "Bei unserer heutigen Wanderung geht es um das Thema 'Marschieren'."
    Man wolle sich auseinandersetzen damit, was jemanden antreibt, sich auf den Weg zu machen. Insbesondere im spirituellen Bereich. Das interessiere auch jene, die sich als ungläubig bezeichnen, versichert die junge Jüdin.
    Yoga fürs Wohlbefinden
    Caroline Kaufmann sagt: "Wir haben unterschiedliche Texte herausgesucht, aus allen Religionen wie auch Philosophisches. Vorlagen, um den gedanklichen Austausch anzukurbeln, es uns zu erleichtern, unsere Unterschiede zu hinterfragen. Und dabei aufzudecken, wie ähnlich wir uns letztendlich sind."
    An der S-Bahn-Endstation warten schon weitere Vereinsmitglieder, darunter Naima. Die praktizierende Muslimin ist sehr angetan vom Motto der Wanderung - Religion und Spiritualität gelten im laizistischen Frankreich als Privatsache. Als Tabu. Der Verein "Coexister" biete fast die einzige Gelegenheit, sich mit Andersdenkenden zu spirituellen Fragen auszutauschen, meint Naima.
    Sie meint: "Unsere heutige Gesellschaft ist viel zu schnelllebig, zu oberflächlich, als dass man Gelegenheit hätte, seine Spiritualität, also den inneren Dialog mit Gott, zu vertiefen. Ich glaube nicht, dass man die französische Gesellschaft diesbezüglich als spirituell bezeichnen kann."
    Naimas Begleiterin, eine ältere Muslimin, wendet ein:
    "Spricht man aber von Meditation, von Yoga, von einer spirituellen Suche, bei der es rein um das persönliche Wohlbefinden geht, sieht es anders aus - das ist heute im Land weit verbreitet."
    Sommerserien im Radio
    Zwei von fünf Franzosen interessieren sich für das Thema Spiritualität, sagt Caroline Kaufmann. Das ergab erstmals eine repräsentative EU-Umfrage, das sogenannte Eurobarometer zu den Werten der Bevölkerung aus dem Jahr 2009. Neuere Erhebungen bestätigen das. Viele Franzosen setzen auf ihren ganz eigenen Zugang zur Spiritualität, zu Gott oder einer anderen Form höherer Macht.
    Das ist auch im Alltag sichtbar: Am Zeitungskiosk liegen immer mehr spirituelle Zeitschriften aus. Das Radioprogramm bringt Sommerserien zum Thema Spiritualität. Caroline Kaufmann vom Verein "Coexister" führt aus:
    "Meiner Meinung nach sind die Franzosen heute zunehmend auf spiritueller Suche. Vor allem, seit unsere Gesellschaft durch die islamistischen Attentate in den letzten Jahren gespalten wurde. Viele Leute suchen verstärkt inneren Rückhalt. Da bietet die Spiritualität selbst jenen, die keinem religiösem Glauben anhängen, einen Weg hin zu mehr innerem Frieden. Das sehe ich zumindest bei vielen jungen Franzosen."
    Konkrete Zahlen zu erhalten ist jedoch fast unmöglich. In Frankreich, das per Gesetz 1905 eine strikte Trennung von Staat und Kirche durchsetzte, sind amtliche Erhebungen zur Religionszugehörigkeit verboten. Sicher ist: Die katholische Kirche, einstmals in absoluter Vormachtstellung, hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Anhänger verloren. Und unter denen, die sich überhaupt noch zum Katholizismus bekennen, praktizieren lediglich neun Prozent regelmäßig. Weit weniger als unter den einheimischen Muslimen den Islam praktizieren. Vincent Neymon, Sprecher der französischen Bischofskonferenz.
    Sakramente haben es schwer
    "Wir sehen sehr wohl, dass die Nachfrage nach den heiligen Sakramenten deutlich sinkt, obwohl nun mehr Erwachsene um Taufe und Konfirmation bitten. Das kompensiert nicht den sonstigen Einbruch, aber es belegt doch eine gewisse Suche nach Sinn. Man sieht auch, dass evangelikale Gruppen, protestantische Freikirchen, im Aufwind sind."
    Für eine wahre Trendwende reicht das nicht. Mehrere Umfragen der letzten Jahre kommen zu ähnlichen Ergebnissen: "Über die Hälfte der Franzosen bekennt sich mittlerweile nicht mehr zu einer Religion," fasste die Tageszeitung "Le Monde" im Mai 2015 zusammen. Zählt man die überzeugten Atheisten hinzu, sind es nun sieben von zehn Franzosen, die der Religion den Rücken kehren. Ein Drittel unter ihnen jedoch glaubt an eine Form göttlicher Macht. Die nunmehr zentrale Realität in der religiösen Landschaft Frankreichs wird mit einer Formel definiert: 'Croire sans appartenir" - Glaube ohne religiöse Zugehörigkeit. Das ist der Lage in Deutschland sehr ähnlich.
    Jean-François Barbier-Bouvet hat 'Die neuen Abenteurer der Spiritualität', so der Titel seines 2016 veröffentlichten Werks, studiert. Für die umfangreiche Untersuchung wandte sich der Religions-Soziologe mit seinem Team an Yoga-Schulen, Meditationsgruppen, an Klöster, die spirituellen Rückzug anbieten. Orte neuer spiritueller Aktivitäten seien heute überall im Land zu finden. Im frankophonen christlichen Privatradio RCF verwies Barbier-Bouvet auf ein Studienergebnis:
    "Von einhundert Personen, die aktiv auf spiritueller Suche sind, erklären 25 Prozent, keinerlei Religion anzugehören. Und 60 Prozent bezeichnen sich als Christen. Jeder sechste von ihnen legt aber Wert auf die Klarstellung, nicht einer christlichen Kirche, sondern der christlichen Kultur verbunden zu sein."
    Abenteurerinnen zwischen 40 und 65
    Das typische Profil der neuen spirituellen Abenteurer in Frankreich unterscheidet sich kaum von dem in anderen westlichen Ländern. Es handelt sich überwiegend um Frauen mit höherem Bildungsstand, zwischen 50 und Mitte 60.
    Barbier-Bouvet:
    "Die am meisten verbreitete Praxis bei allen, die auf einem spirituellen Weg sind, ob im christlichen, orientalischen Rahmen oder dem der persönlichen Entfaltung, ist die Meditation. Man meditiert nicht, wenn es gerade mal passt, sondern regelmäßig: täglich oder mindestens einmal wöchentlich. Das ist Alltag bei 65 Prozent der Personen, die wir für unsere Studie befragten."
    Auf Platz 2 der Hitparade spiritueller Aktivitäten in Frankreich stehen Yoga, Chi Gong und Raiki – auf körperliche Erfahrungen, um die Sinnsuche zu beflügeln. Praktiken christlicher Spiritualität liegen auf Platz 4. Und 80 Prozent der neuen 'Sinn-Sucher' interessieren sich für den Buddhismus. Ein Beleg dafür, wie pluralistisch die religiöse Landschaft Frankreichs, wie auch in vielen anderen Ländern, mittlerweile geworden ist. Die Studie deckte zudem für Frankreich erstmals ein Phänomen auf, das in angelsächsischen Ländern heute weit verbreitet ist: Die Befragten bezeichnen sich als 'spirituell, aber nicht religiös'. Jean-François Barbier-Bouvet:
    "Der Zugang zur Spiritualität ist heutzutage kein exklusiver mehr. Diese Logik charakterisiert nun grundsätzlich den spirituellen Ansatz ebenso wie auch die heutige Moderne. Man ist nicht mehr das eine oder das andere, sondern das eine und das andere. Mancher, den wir nach seiner Religion befragten, antwortete: Christ und Buddhist. Darin äußert sich kein Widerspruch. Sondern eine Bereicherung."
    Macron Bedürfnis nach dem Absoluten
    Das Thema Spiritualität bewegt auch Staatspräsident Emmanuel Macron. Bei einer außergewöhnlichen Veranstaltung Anfang April in Paris warb er bei seiner Gastgeberin, der katholischen Bischofskonferenz, um eine 'Spende': die spiritueller Freiheit.
    "Ich wünsche, dass jeder unserer Mitbürger an eine Religion, an eine ihm eigene Philosophie, an eine Form von Transzendenz glauben könne - oder auch nicht. An ihm, frei zu entscheiden. Aber jede Religion, jede Philosophie solle ihm ein zutiefst empfundenes Bedürfnis nach etwas Absolutem erbringen."
    Schließlich, resümiert der renommierte Religionssoziologe Philippe Portier, sei das Thema Spiritualität in Frankreich von einer nationalen Eigenheit geprägt:
    "Die spirituellen Ansätze, sei es der traditionellen religiösen Praktiken oder neuer Formen, werden allesamt überragt von einem transzendierenden Prinzip der Spiritualität: von den Menschenrechten. Die liegen der französischen Gesellschaft sehr am Herzen. Menschenrechte können Brücken bauen zwischen all den unterschiedlichen Formen von Spiritualität."