Donnerstag, 25. April 2024

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Gutachten zu sexueller Gewalt
Kirchenrechtler: Sehr wahrscheinlich, dass Woelki von Fällen wusste

"Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" habe Kardinal Rainer Maria Woelki in seiner Zeit als Kölner Weihbischof Kenntnis über Vorwürfe zu sexueller Gewalt gehabt, sagte der Kirchenrechtler Bernhard Anuth im Dlf. Das Gutachten laste ihm keine Schuld an, weil er damals kein Entscheider war.

Bernhard Anuth im Gespräch mit Christoph Heinemann | 19.03.2021
Kardinal Rainer Maria Woelki hält sich bei der Vorstellung des Gutachtens die Hand an den Kopf
Es sei fraglich, ob nach der Veröffentlichung des Gutachtens alle Vorgänge zu Vorwürfen sexueller Gewalt im Erzbistum Köln aufgedeckt seien, sagte Bernhard Anuth im Interview (picture alliance/ASSOCIATED PRESS|Ina Fassbender)
75 Pflichtverletzungen von Verantwortlichen im Umgang mit sexueller Gewalt konnten die Gutachter um Strafrechtler Björn Gercke im Erzbistum Köln feststellen. Kardinal Rainer Maria Woelki wurde dabei nichts angelastet, Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und Offizial Günter Assenmacher hat Woelki wegen aufgezeigter Pflichtverletzungen mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben entbunden.
"Woelki dürfte sich damit als aus der Schusslinie genommen sehen", sagte Bernhard Anuth, Kirchenrechtler an der Universität Tübingen, im Deutschlandfunk. Man müsse aber davon ausgehen, dass der Kardinal in seiner Zeit als Weihbischof von Vorwürfen zu sexuellem Missbrauch gewusst hat.
Aus vielen Bistümern, auch aus dem Erzbistum Köln, sei bekannt, dass solche Fälle in Konferenzen in denen Hauptabteilungsleiter des Ordinariats, Weihbischöfe, der Generalvikar und der Bischof anwesend waren, besprochen wurden. Dieses Vorgehen habe der frühere Personalchef Kümpel Anfang 2020 in einem Interview mit dem Domradio ausdrücklich eingestanden. Es könne aber dennoch durchaus zutreffend sein, dass Woelki keine konkrete Pflichtverletzung im rechtlichen Sinne vorwerfbar sei, sagte Anuth, denn Woelki sei damals kein Entscheider gewesen.
Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki bei einer Messe im Dom
Zwei Gutachten und viele Vorwürfe
Das Gutachten zum Umgang mit sexualisierter Gewalt im Erzbistum Köln findet Hinweise auf 202 Beschuldigte und 314 Betroffene sowie Pflichtverletzungen durch hohe Kleriker. Bei Kardinal Woelki habe man keine Pflichtverletzungen feststellen können. Ein Überblick.
Das Gutachten genüge einigen Ansprüchen. Es nenne Namen und zeige auch konkrete Fälle von Vertuschungen auf. Es sei aber fraglich, ob damit alle Vorgänge im Erzbistum Köln aufgedeckt und alle Verantwortlichen benannt seien.
Man müsse bedenken, dass das Gutachten nur auf Akten beruhe, die das Bistum zur Verfügung gestellt hat. Im Gutachten sei auch dokumentiert, dass zum Teil noch Akten nachgereicht worden seien. Die Gutachter hätten zudem Erkenntnisse zu einem Fall zugetragen bekommen, der in den überlassenen Akten gar nicht auftauche, "die Aktenlage ist sicher unvollständig", sagte Anuth.
Die Gutachter wiesen zudem auch darauf hin, dass die Aktenführung zum Teil katastrophal sei. Im Sinne einer unabhängigen und vollständigen Aufklärung hätte man Wissenschaftlern Zugang zu kirchlichen Archiven ermöglichen und diese selbst entscheiden lassen sollen, welches Material sie für die Untersuchung für relevant halten und welches nicht, sagte Anuth.

Das vollständige Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Professor Anuth, Vertuschungen aufdecken, die Namen von Verantwortlichen nennen – wird das Gutachten diesem Anspruch gerecht?
Bernhard Anuth: Ja, denn es nennt Namen von Verantwortlichen. Sie haben einige ja gerade genannt. Und es kommt auch das Wort "Vertuschung" darin vor. Es wird attestiert, dass es im Erzbistum Köln immer wieder Bestrebungen von Verantwortungsträgern, zumindest von einzelnen gab, Fälle von sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen und dazu bestimmte Verhaltensweisen verwirklicht wurden. Entweder wurde ein korrekter Umgang angewiesen, oder pflichtwürdig unterlassen. Das ist das, was man als Vertuschung wird bezeichnen können. Dass damit alle Vorgänge im Erzbistum Köln aufgedeckt seien, die von außen als Vertuschung wahrgenommen wurden, und alle Verantwortlichen benannt, das wird man allerdings noch mit Vorsicht behandeln müssen.
Heinemann: Woran liegt das?
Anuth: Dass das Gutachten nur auf Aktenlage stattgefunden hat, und zwar nur auf Grundlage der Akten, die dem Gutachterkreis vom Erzbistum Köln übergeben worden sind. Im Gutachten selber ist dokumentiert, dass zum Teil noch Akten nachgereicht worden sind und den Gutachtern zumindest von einem Fall Kenntnis zugetragen worden ist, der sich in den überlassenen Aktenbeständen gar nicht findet.
Kardinal Rainer Maria Woelki hält das Gutachten kurz nach der Veröffentlichung in der Hand.
Kirchenkritiker Frerk: "Kirche definiert selber, welche Akten sie freigibt"
Kardinal Woelki werde seinem hohen Anspruch nicht gerecht, den Umgang mit sexueller Gewalt im Erzbistum aufzuklären, sagte der Kirchenkritiker Carsten Frerk im Dlf. Das ändere auch das veröffentlichte Gutachten nicht.
Heinemann: Was wäre die Alternative gewesen? Welches Vorgehen wäre besser gewesen?
Anuth: Besser im Sinne einer unabhängigen und gegebenenfalls auch vollständigen Aufklärung wäre aus meiner Sicht gewesen, möglichst interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftlern Zugang zu kirchlichen Archiven zu ermöglichen und sie selber entscheiden zu lassen, welches Material sie für die Untersuchung für relevant halten und welches nicht, und sich nicht auf die Vorauswahl der Institution zu verlassen.

"Gutachten ausdrücklich nur auf Aktenlage"

Heinemann: Das heißt, hier wurde gefiltert?
Anuth: Das kann und will ich nicht behaupten. Aber schon im Gutachten selber steht ja drin, dass das Aktenmaterial höchst disparat war und die Aktenführung zum Teil sogar katastrophal. Wir haben es mit einem Gutachten ausdrücklich nur auf Aktenlage zu tun und des Gutachters größte Kritik richtet sich auf die Aktenlage. Das verantwortet nicht der Gutachter, dass die Aktenlage so ist, wie sie ist, sondern das geht zum einen aufs Kirchenrecht mit seinen Vernichtungsvorschriften zurück, aber sicherlich zum anderen auf die Tatsache, dass Akten schlampig geführt worden sind. Aber damit leidet ein Gutachten nach Aktenlage genau daran, dass die Aktenlage sicher unvollständig ist. Ob obendrein noch bewusst gefiltert wurde, das weiß ich nicht und möchte ich auch nicht unterstellen.
Heinemann: Nun haben die Gutachterinnen und Gutachter das ausgewertet, was auf dem Tisch lag. Halten Sie dieses Gutachten, das jetzt vorgelegt worden ist, für methodisch gut?
Anuth: Da erlauben Sie mir, dass ich differenziert antworte. Juristisch scheint mir das sehr gründlich gearbeitet. Ich selber bin Kanonist, kein Jurist – ich bin Kirchenrechtler. Juristisch sieht das sehr gründlich gearbeitet aus. Kanonistisch habe ich nach meiner gestrigen Durchsicht durchaus einige Rückfragen und den Eindruck, dass dem Gutachten trotz ihrer Beratung durch namhafte Kanonisten selbst am Ende doch das Verständnis für das System Katholische Kirche, ihre Strukturen und auch die Eigenart ihres Rechts gefehlt hat. In kanonistischer Hinsicht sehe ich da noch Luft nach oben.
Ein methodischer Mangel oder eine methodische Schwäche ist die Fixierung nur auf das Aktenmaterial und das ausdrückliche Absehen davon – und das haben die Anwälte der Kanzlei WSW aus München ja im Unterschied zu den Kölner gemacht. Die haben mit dem gleichen Gutachtenauftrag durchaus auch handelnde Personen angehört, nicht nur Betroffene, sondern zum Beispiel auch den Interventionsbeauftragten oder die Ansprechperson für Betroffene sexuellen Missbrauchs, die wussten, was außerhalb der Akten noch gelaufen ist. Das würde ich durchaus als eine methodische Schwäche sehen, auch wenn Gercke gestern in der Pressekonferenz gesagt hat, durch solche Befragungen werde der Befund des Gutachtens empirisch verfälscht. Das ist aber zunächst mal nur eine Behauptung, für die er meines Erachtens gestern eine Begründung schuldig geblieben ist.
Heinemann: Das heißt, Sie halten den Ansatz des Münchener Gutachtens für weiterführend?
Anuth: Na ja. Ich kenne das Münchener Gutachten nicht. Wir alle kennen es nicht. Insofern kann man das nicht sagen. Angeblich hatten ja beide Kanzleien denselben Gutachtensauftrag, aber die Münchener sind damit dann anders umgegangen und sie haben – und das ist der Punkt, auf den ich jetzt lediglich abzielen wollte – mit handelnden Personen gesprochen und sich nicht auf die Akten fixiert und nicht nur Gespräche mit Beschuldigten geführt, sondern auch mit denen, die wussten, was vielleicht gar nicht in die Akten gekommen ist, denn damit muss man ja rechnen. Wenn Gercke gestern zum Beispiel gesagt hat, dass über einen langen Zeitraum Missbrauchstaten offensichtlich nicht angezeigt wurden, dann meint er damit, in den Akten finden sich keine Hinweise auf Anzeigen. Es ist aber überhaupt nicht ausgeschlossen, dass durchaus Missbrauchstaten der Kirche mitgeteilt wurden, aber auf Seiten der Institution keine Anzeige zu den Akten genommen wurde und insofern jetzt der Aktenbefund ein Nullbefund ist. Das heißt nicht, dass nichts mitgeteilt wurde.

"Ermöglicht Woelki, sich weiter als Aufklärer zu geben"

Heinemann: Herr Professor Anuth, welchen Zweck, wenn wir mal die Perspektive wechseln, erfüllt dieses Gutachten aus Sicht der Auftraggeber?
Anuth: Ja, das müssten Sie die Auftraggeber selber fragen. Ich bin jetzt Beobachter und ich kann attestieren – Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch hat das gestern so formuliert -, Woelki hat bekommen, was er bestellt hat. Ich kann diese Einschätzung tatsächlich nachvollziehen, denn das Gutachten ermöglicht Kardinal Woelki, Namen zu nennen, wie er es versprochen hat. Das ist gestern geschehen und er hat ja auch tatsächlich direkt zwei personelle Konsequenzen gezogen. Dieses Versprechen hat er damit eingelöst. Es ermöglicht ihm gleichzeitig, sich weiter als Aufklärer zu geben, denn das Gutachten spricht ihn ja von allen Vorwürfen frei.
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Die Skandale rund um den Kölner Kardinal Woelki zeigten, wie das System der katholischen Kirche funktioniere, sagte Lisa Kötter von der Bewegung Maria 2.0. Es gehe um Macht, Geld und Einfluss.
Heinemann: Genauso hat es Matthias Katsch ausgedrückt: Freispruch für Woelki. – Inwiefern spielt das eine Rolle für den Kardinal?
Anuth: Ich vermute, er dürfte sich damit als aus der Schusslinie genommen sehen, und es mag ja auch durchaus so sein. Das kann ich jetzt ohne Kenntnis des Aktenmaterials selber nicht beurteilen. Es mag durchaus so sein, dass er selbst im Sinne der Kategorie der verschiedenen Arten von Pflichtverletzungen, die das Gercke-Gutachten ausgemacht hat, da keine solche Pflichtverletzung begangen hat. Das wird daran liegen, dass er nicht in den entsprechenden Funktionen war. Als Weihbischof war er nicht Entscheider in Köln.

Anuth: Woelki wusste "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" von Fällen

Heinemann: Herr Professor Anuth, Sie sprachen eben von dem System. Kann man sich vorstellen, dass in einem System wie der Katholischen Kirche die Verantwortlichen, auch diejenigen, denen im Gutachten jetzt keine Pflichtverletzung bescheinigt wird, dass die von den Straftaten nichts gewusst haben?
Anuth: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nein, denn aus vielen Bistümern ist bekannt und auch aus dem Erzbistum Köln, dass solche Fälle der Beschuldigung eines sexuellen Missbrauchs durch einen Kleriker in den Runden behandelt wurden, die jetzt in Köln zum Beispiel lange Personalkonferenz meines Wissens heißt. In den Diözesen gibt es solche Runden, die aus den Hauptabteilungsleitern des Ordinariats, den Weihbischöfen und dem Generalvikar und dem Bischof bestehen. Darin waren auch die Weihbischöfe und in der Regel wurde in diesen Runden der Umgang mit solchen Tätern besprochen und beraten. Das hat für das Erzbistum Köln der frühere Personalchef Kümpel Anfang 2020 in einem Interview mit dem Domradio auch ausdrücklich eingestanden und gesagt, es habe so gut wie keine Fälle gegeben, die an der Kölner Personalkonferenz und der dort gemeinsamen Besprechung vorbeigegangen wären.
Heinemann: Das hieße, dass der ehemalige Weihbischof Woelki sehr wohl wusste, was da passiert ist?
Anuth: Davon muss ich ausgehen. Davon können wir vermutlich ausgehen. Er war nicht Entscheider und insofern kann es durchaus zutreffend sein – das will ich damit jetzt nicht in Zweifel ziehen –, dass ihm keine konkrete Pflichtverletzung im rechtlichen Sinne vorwerfbar ist, aber dass er in den Jahren 2003 bis 2011, ein relativ langer Zeitraum, in dem er ja Weihbischof war, und er war ein enger Vertrauter auch vorher schon als Privatsekretär von Kardinal Meisner, dass er keine Kenntnis von Missbrauchstaten und vom Umgang mit den Tätern hatte, das erscheint mir hoch unwahrscheinlich.
Heinemann: Vor elf Jahren hat der Jesuit Klaus Mertes die Straftaten katholischer Geistlicher am Canisius-Kolleg veröffentlicht. Was ist in diesen elf Jahren in der Sache im Erzbistum Köln passiert?
Anuth: Durchaus viel! Die DBK-Leitlinien von 2010 sind überarbeitet worden 2013. 2020 ist eine neue Ordnung daraus geworden auf Ebene der Bischofskonferenz, die jetzt in Kraft tritt. Kardinal Woelki hat die Interventionsstelle verselbständigt, von der Prävention getrennt. Da ist einiges passiert. Aber nachdem wir gestern bei der Pressekonferenz ja doch eine beeindruckende Inszenierung von Eigen- und Fremdlob erlebt haben, würde ich vielleicht an der Stelle lieber sagen, was nicht passiert ist, und auch dafür ist die gestrige PK ein gutes Beispiel. Es ist nämlich noch nicht gelungen, zu einer Kultur des Ichsagens zu gelangen. Das ist in der Katholischen Kirche insgesamt noch ein Desiderat, aber auch im Erzbistum Köln, und deshalb haben Betroffenenvertreter gestern Nachmittag und Abend in verschiedenen Medien ja auch unzufrieden reagiert. Der Kardinal oder andere, zwei haben es getan, Erzbischof Heße und der Weihbischof Schwaderlapp. Die haben jetzt ich gesagt und den Rücktritt angeboten, aber ja nur unter maximalem Druck.
Heinemann: Da fehlt noch was, sagt Professor Bernhard Anuth, Kirchenrechtler an der Universität Tübingen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.