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Marica Bodrožić: „Pantherzeit"
Eine neue Zukunft denken

Rilkes "Panther" ist das Gedicht der Stunde. Zumindest für die deutsch-kroatische Dichterin Marica Bodrožić. Während des Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 rezitierte die Autorin das Gedicht abends laut von ihrem Berliner Balkon aus. Nun legt sie ein Buch über ihre persönlichen Pandemie-Erfahrungen vor.

Von Günter Kaindlstorfer | 23.02.2021
Marica Bodrožić: "Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover, auf dem Wolken abgebildet sind.
Ein Gedicht als Hoffnungsträger. Marica Bodrožić liest Rilke. (Bild: Peter von Felbert / Cover: Otto-Müller-Verlag)
"Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt."
Die melancholischen Verse, mit denen Rainer Maria Rilke den Gemütszustand eines trostlos hinter stählernen Gitterstäben im Pariser "Jardin des Plantes" eingekerkerten Panthers beschreibt, diese Verse lassen sich als eine Art Programmgedicht des Corona-Jahres 2020 lesen, findet Marica Bodrožić. Hunderte Male hat die Dichterin Rilkes Dreistropher von ihrem Berliner Balkon aus deklamiert, wie sie erzählt.
"Das Erstaunliche an diesem Gedicht ist, dass es mit jedem Mal Lesen noch tiefer in mich hineingedrungen ist. Dass der Klangraum, der Gedankenraum, die Schönheit der gesetzten Klarheit, aber auch die Radikalität der poetischen Intention, auch die Bildhaftigkeit des eingesperrten Panthers immer mehr zum Tragen gekommen ist. Und am Ende, nach zwei Monaten Jeden-Abend-Vortragen, hatte ich den Eindruck, mein Körper ist mit diesem Gedicht verwachsen. Und das ist das Schönste, was ein Gedicht einem schenken kann, denn dass es sich so bewährt und immer stärker wird, ist ein ganz großes Geschenk."

Dem Alltag Struktur geben

Marica Bodrožić, selbst eine Poetin von Rang, nimmt die Covid-19-Pandemie zum Anlass, in einem Akt lyrisch-essayistischer Selbstvergewisserung über sehr persönliche Dinge zu schreiben: über das Zusammenleben mit ihrem Mann Gregor und ihrer zweieinhalbjährigen Tochter, über das Gärtnern auf dem Balkon und ihre beharrlichen Versuche, durch das morgendliche Auftragen von Lippenstift und andere körperkosmetische Aktivitäten tägliche Routinen aufrechtzuerhalten, die dem pandemischen Alltag Struktur geben. Dabei öffnen sich auch Räume für kontemplative Erfahrungen:
"Der Frühling ist gekommen. Seine Schönheit und sein Licht sind überirdisch wirksam. Mit der wärmenden Sonne ist unsere Innenzeit einhergegangen. Auf der ganzen Welt sitzen die Menschen in ihren Wohnungen fest. COVID-19 hat uns alle auf die gleiche Weise getroffen: als atmende Einzelwesen, die mit dem empfindlichsten Organ ihres Körpers mit allen anderen Einzelwesen verbunden sind. Vielleicht haben wir das vergessen, diese Verbindung, die die Luft uns zuweist."

Zeithistorische Assoziationen

Bodrožićs atmender Geist reist durch die Zeiten und Räume im ersten Jahr der Pandemie. Immer wieder drängen sich dem räsonierenden Ich des Essays politische und zeithistorische Assoziationen auf:
"Gestern kam mir die Eingebung, dass dieser Zustand der sozialen Isolation, des Eingesperrtseins, des Maske- und Handschuhtragens, des permanenten Händewaschens und Desinfizierens (... ) noch lange andauern wird. Heute in einer Woche ist Karfreitag. Die Auferstehung wird dennoch auf sich warten lassen und sich länger hinziehen. Wenn es anderthalb Jahre dauern würde, sind das nur 540 Tage. Nichts also im Vergleich zur Leningrader Blockade, die 900 Tage dauerte und in der an die 1,1 Millionen Zivilisten starben – meist an Hunger. Nichts auch im Vergleich zur Belagerung von Sarajevo. In der bosnischen Hauptstadt mussten die eingeschlossenen Menschen unter Beschuss 1425 Tage aushalten. Mit der längsten Belagerung im 20. Jahrhundert ging eine Luftbrücke einher, die die Versorgung von Hunderttausenden sicherstellte und die länger als die Berliner Luftbrücke dauerte."
"Ja, mir sind von Anfang an die Belagerungen des 20. Jahrhunderts in den Sinn gekommen, einfach, weil ich mich sehr viel damit beschäftigt habe: die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg, die Belagerung Sarajewos in den jugoslawischen Kriegen – das waren die Koordinaten, mit denen ich der Pandemie im ersten Lockdown begegnet bin. Die Gefährdungen sind natürlich andere, wenn man wirklich bombardiert wird und Hunger leidet und nichts mehr sicher ist. Die Pandemie stellt uns trotzdem vor große Herausforderungen und ist, historisch gesehen, wohl eine ähnliche Setzung, wie Kriege und Belagerungen von Städten es uns gezeigt haben."

Hoffnung auf Veränderung

Noch vermag niemand zu sagen, wie lange die "Pantherzeit", die infektiologische Heimsuchung, insgesamt noch dauern wird. Marica Bodrožić verknüpft mit dem Ende der Pandemie hochherzige, fast utopische Hoffnungen:
"Es entsteht gerade die Möglichkeit einer neuen Zukunft, ich will nicht, dass die alte Normalität der Ellenbogen und der Gleichgültigkeit zurückkehrt."
"Die Hoffnung ist vielleicht nicht realistisch, aber die Hoffnung selbst ist eine Realität. Sie ist eine eigene Wirklichkeit, und in diesem mystischen Paradoxon versuche ich zu denken und mich zu bewegen, denn ich weiß: Am Ende aller Gefahren öffnet sich ein großer Raum, der uns vielleicht doch eine andere Art zu denken an die Hand gibt. Und dieser Raum schafft auf Dauer eine größere Brücke zur Veränderung. Wie lange wird das dauern? Ich glaube, wir müssen in Generationen und dürfen nicht in Tagen denken."
In Generationen denken – das verlangt nach einem langen Atem. Wer da ein Gefühl von Ungeduld in sich aufsteigen spürt, mag sich die Wartezeit möglicherweise mit Marica Bodrožićs hoffnungsspendendem Essay verkürzen Denn eines ist sicher: Anders als für Rilkes Panther werden die Käfigtüren für die allermeisten von uns, realistisch betrachtet, irgendwann wieder aufgehen.
Marica Bodrožić: "Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge"
Otto-Müller-Verlag, Salzburg.
262 Seiten, 22 Euro.