Isoliert wegen des Coronavirus

Die Eingeschlossenen im Kraftwerk

05:34 Minuten
Eine Illustration eines Kraftwerks, aus dem unten sowohl ein Stromkabel als auch Wurzeln herauskommen.
Der Text von Verena Güntner beruht auf einer wahren Tatsache: Die Mitarbeiter eines Kraftwerks schotten sich vom Rest der Welt ab, um vom Coronavirus verschont zu bleiben. © imago images / Ikon Images
Von Verena Güntner · 07.04.2020
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Getrennt von ihren Familien harren Mitarbeiter eines Wiener Kraftwerks aus, um Strom und Wärme für die Stadt zu sichern. Die Schriftstellerin Verena Güntner malt sich ihre Lage aus - in einer "Lesart"-Serie über Stützen der Gesellschaft in der Krise.

Stevie – ein Protokoll aus der Arbeitswelt

Drinnen ist es stockfinster. Er greift nach der Taschenlampe, die unter seinem Kopfkissen liegt, und schaltet sie an. Der Lichtkegel streift die anderen Betten, die Waschmaschine im Gang, die fünfzehn Schuhpaare am Boden neben der Toilette. Er dreht den Schlüssel im Schloss und drückt die Tür auf, atmet gierig die frische Luft ein. Auf der Tischtennisplatte liegt noch ein Schläger. Er lehnt sich mit dem Kopf gegen die Containerwand und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Zieht daran, schmeckt den trockenen Tabak und beißt auf dem Filter herum. Er hat kein Feuerzeug mitgenommen. Dass Raucher es schwerer haben, das Virus zu überstehen, hat er gelesen und von einem Tag auf den anderen aufgehört. Obwohl er hier nichts zu befürchten hat. Alle sind gesund und werden es bleiben. Weil sie abgeschottet sind vom Rest der Welt. "Jeder von euch ist unersetzbar", hat der Chef gesagt, und ihm war ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Mutter auf der Intensivstation

Er schaut auf die Uhr. Seit einer Woche wacht er jede Nacht um dieselbe Zeit auf. Muss an die Mutter denken, die seit drei Tagen auf der Intensivstation liegt, und daran, ob es seine Schuld ist. Eva schafft es allein, daran hatte er keine Zweifel. Sonst hätte er sich nicht gemeldet, freiwillig. "Wir schaffen das!", hat sie gesagt, und: "Das ist jetzt wichtiger, eine wichtige Aufgabe. Das machst du ja auch für uns, für uns alle letztlich." Dass sie stolz auf ihn sei, hat sie gesagt und ihm fest in die Augen geschaut.
Es ist auch wirklich gar keine Frage gewesen. Lupic hob als erster die Hand, und sofort schnellten noch andere Hände nach oben. Dass sie sich ganz sicher sein müssten, sagte der Chef, keiner wisse, wie lang das dauern würde. Vor einem Monat ist Eva dann doch zu den Eltern. Hat es nicht mehr ausgehalten den ganzen Tag allein zuhause mit den Kindern. Zwei Wochen später wurde die Mutter krank.

Löwenkopf mit leeren Augen

Er kratzt sich am Unterarm, strahlt mit der Taschenlampe drauf. Der Löwenkopf ist nur zur Hälfte gestochen, die Augen sind noch nicht gefüllt und starren ihn hohl an. Der nächste Termin wäre am Tag nach dem Beschluss gewesen, aber da war er schon in Heimquarantäne, wie alle anderen auch, die sich gemeldet hatten. Im Anschluss wurden sie getestet, wer sauber war, war dabei. Ob es das Tattoostudio noch gibt, wenn das alles vorbei ist, fragt er sich und reibt sich die Stirn. Die Mücken fressen ihn und die Kollegen auf. Immer vergisst einer, die Tür zuzumachen am Abend, wenn das Licht noch brennt. Lupic hat gestern einen Bierkrug zertrümmert deswegen. Die Nerven werden dünner, drei Monate sind sie mittlerweile hier. Der Zusammenhalt war groß am Anfang. Sie alle hat beeindruckt, wie das Unternehmen das geregelt und durchgezogen hat. Schon als der erste Fall bekannt wurde, lief die Planung an. Wohncontainer wurden an allen vier Standorten aufgestellt, das Besprechungszimmer im Kraftwerk zum Schlafsaal umfunktioniert. Vollausgestatteter Sportraum, Computerspiele, Fernseher, alles da.

Der Auslauf: 20 Schritte im Kreis

Er tippt den Entsperrcode seines iPhones ein. Seine Familie schaut mühsam hinter den Icons hervor. Eva und Tom haben Aktien und Wetter im Gesicht, Lea iTunes im Auge. Nur der Hund ist ganz zu sehen. Seine aufgestellten Ohren berühren FaceTime. Ein Ziehen in der Brust; er vermisst den Hund. Den letzten Spaziergang am Tag hat immer er mit ihm gemacht, während Eva die Kinder ins Bett brachte. Seit er weg ist, lässt sie ihn abends einfach in den Garten, holt ihn manchmal erst nachts wieder rein, weil sie sein Winseln nicht mehr hören kann.
Er schaut sich um im Auslauf, so nennen sie das kleine Stück Fläche zwischen Container und Absperrung. Zwanzig Schritte im Kreis sind möglich. Besser als nichts, dachte er anfangs. Jetzt freut er sich auf kaum etwas so, wie darauf, das erste Mal wieder seine Straße bis zum Ende runterzugehen. Er wird das hier durchziehen, keine Frage. Denn er und die anderen sind die Garantie: dass den Leuten nicht das Licht ausgeht, dass sie morgens warm duschen und, davon gehen sie mittlerweile aus, wieder heizen können im Herbst.
Er öffnet den Chat mit Eva bei WhatsApp und liest die letzten Nachrichten noch mal. Um die Mutter ging es, die sie nicht besuchen können, den Vater, der stumm im Sessel sitzt, um Tom und Lea, die von morgens bis abends nur noch streiten. Auf seine Frage, wie es ihr, Eva, denn gehe, antwortete sie nicht mehr. Er scrollt durch die Nachrichten nach oben, schneller und schneller zurück zu dem Tag, der sein erster hier in der Isolation war. Um 00:00 Uhr schrieb Eva: Süßer, first day: check! Schlaf gut, du Held.

Verena Güntner, 1978 in Ulm geboren, war mit ihrem Roman "Power" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt 2013 den Kelag-Preis des Ingeborg Bachmann Wettbewerbs. Sie studierte Schauspiel in Salzburg, spielte Theater in Bremen, Bonn und Wiesbaden und lebt als Schriftstellerin mit ihrer Familie in Berlin.

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