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Bundestagswahl 2017
Hip, desinteressiert? Parteien verlieren Wählernachwuchs

Keine Parteienbindung und wenig Vertrauen in die Politik: Bei der Bundestagswahl dürfte die Wahlbeteiligung junger Menschen wieder hinter der Wahlfreude der Älteren zurückbleiben. Mit neuen Online-Formaten versuchen die Parteien, mit den Jungen in Kontakt zu bleiben. Doch nur über YouTuber erreichen sie die Jungwähler nicht.

Von Nadine Lindner und Stefan Maas | 15.08.2017
    Eine Person hält ein Smartphone in der Hand, auf dem die Logos von Facebook und Twitter zu sehen sind.
    Twitter und Facebook sind aus dem politischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Doch nicht immer erreichen sie die Jungwähler damit. (dpa / Maurice Wojach)
    Es ist ein heißer Augustnachmittag. Manche Jugendliche im Stadtteiltreff in Frankfurt/Oder hängen im Garten herum, ein paar sitzen lieber drinnen. Während die Jugendlichen auf der großen Couch im Mikado-Haus noch kichern, fasst sich Kevin ein Herz und redet über die Bundestagswahl. Der 22-Jährige mit den blau gefärbten Haaren arbeitet in einer Behinderten-Werkstatt.
    "Warum wählen, wenn sowieso alle nur lügen und Scheiße labern und sich nicht dran halten, was sie sagen?"
    Ihn stört, dass zu wenig fürs Soziale gemachtwerde. Seine Schwester müsse als Friseurin jeden Cent dreimal umdrehen. Der Mindestlohn habe doch gar nichts gebracht. Das sei alles Mist.
    "Von wegen ja - Veränderung hier, Veränderung da, keine Ahnung, mehr Geld für irgendwen, also sagen wir mal Friseure oder Kindergärtner, und sie halten sich nicht dran."
    Ob er wählen gehen wird? Ja, nein, vielleicht auch nicht. Oder doch? Kevin kann und will sich nicht entscheiden. Das ganze Thema nervt ihn eigentlich ziemlich, weil er keinem Politiker, keiner Partei vertraut.
    Wahlplakate verschiedener Parteien zur Bundestagswahl in Berlin-Prenzlauer Berg, stehen auf einer Wiese.
    Klassische Wahlwerbung: das Wahlplakat. (imago / Seeliger)
    Politikverdrossenheit wegen oberflächlichem Wahlkampf
    Julia ist 20 und steht in der Küche des Stadtteiltreffs und hat nicht viel Zeit, es ist ihr erster Praktikumstag. Vor vier Jahren hat sie selbst für die U-18-Wahl Programme analysiert und Kandidaten befragt. Bei dieser Wahl-Simulation lernen Jugendliche, wie parlamentarische Demokratie funktioniert.
    Vier Jahre. Für Julia ist das lange her. Entschieden, wem sie Ende September bei ihrer ersten Wahl ihre Stimme geben wird, hat sie noch nicht.
    "Ganz schönes Hin und Her. Deswegen bin ich da immer so im Zwiespalt. Ich muss mich da erst richtig reinlesen, um mein Urteil da fällen zu können. Man hört auch immer sehr viel von außen, die sind total schlecht, und die mag ich nicht, oder so. Deswegen halte ich mich immer ein bisschen zurück, was das betrifft."
    Martin Hampel, Sozialpädagoge im Mikado-Haus in Frankfurt/Oder, lässt sich in einen Sessel fallen und sieht doch ganz zufrieden aus: Laut hier - aber schön, wenn das Haus voll ist, soll sein Blick sagen. Seit 2009 betreut er die U-18-Wahl in Frankfurt/Oder. Und vieles im Wahlkampf findet er zu oberflächlich:
    "Da kommt meiner Meinung nach auch die Politikverdrossenheit her, dass sehr verkürzt dargestellt wird, was eben nicht so einfach ist. Und ich darf, wenn ich einem Jugendlichen Mathematik beibringe oder Deutsch, die Interpretation von einem Gedicht, oder sonst irgendwas, da kann ich ihm durchaus zutrauen, ein Wahlprogramm mal auseinanderzunehmen und zu interpretieren. Das können die!"
    Auf Jugendliche zugehen
    Aber, sagt Hampel, es müssten schon Themen sein, die mit der konkreten Lebenswelt der Jugendlichen zu tun hätten, wie Schule, Bildung, oder Internet. Debatten über Rente oder die Energiepolitik gingen völlig an ihnen vorbei. Von den Parteien fordert der Mittdreißiger: Geht auf die Jugendlichen zu, zu ihren Treffpunkten, in die Schulen, beweihräuchert euch nicht selbst, sondern quatscht einfach mal mit ihnen über ihre Wünsche.
    Wenn am 24. September der 19. Deutsche Bundestag gewählt wird, dann sind die jungen Wähler deutlich in der Minderheit. 61,5 Millionen Deutsche werden ihre Stimme abgeben dürfen. Rund 9,4 Millionen Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 30 Jahren stehen rund 22,3 Millionen Stimmberechtigten über 60 gegenüber - und diese Kluft wird noch wachsen.
    "Also, man will nicht Alt gegen Jung ausspielen, darum geht es nicht", sagt Wolfgang Gründinger. Der 33-Jährige ist im Vorstand der Stiftung Generationengerechtigkeit und Autor des Buches "Alte Säcke Politik".
    "Es geht auch nicht um einen Krieg der Generationen. Sondern es geht einfach darum, wer hat denn die Aufmerksamkeit der Politik. Für wen wird Zeit, Aufmerksamkeit und auch Geld verwendet. Und das sind heute eben vor allem die älteren Wählergruppen."
    Ein Wahlkampf für Ältere
    Ein Beispiel: Rentenpolitik. Mütterrente und Rente mit 63. Beides waren Wahlkampfschlager 2013 und wurden von der Großen Koalition prompt umgesetzt.
    Und auch dieses Mal begrüßt den Besucher etwa auf der Webseite der SPD ein Foto eines älteren Paares, darunter steht der Hinweis auf die Rentenpläne der SPD. Schaut man auf die demografische Entwicklung, ist das nur konsequent. Ist heute jeder fünfte Deutsche älter als 65, wird es in 20 Jahren jeder dritte sein. Jünger als 20 Jahre sind dann in Deutschland nur noch 17 Prozent der Bevölkerung.
    Doch die Jüngeren sind nicht nur weniger, sie gehen auch seltener zur Wahl, das zeigen die Zahlen, sagt Stefan Merz, er ist beim Meinungs- und Wahlforschungsinstitut Infratest dimap Direktor für den Bereich Wahlen. Bei der letzten Bundestagswahl, 2013, gingen nur 60 Prozent der 21- bis 25-Jährigen zur Wahl. Zum Vergleich: Bei den 60- bis 70-Jährigen waren es 80 Prozent.
    "Es ist tatsächlich ein klassisches Muster der Wahlbeteiligung, dass einfach jüngere Wähler seltener an Wahlen teilnehmen. Mit jeder Alterskohorte höher wird es dann mehr, so etwa zwischen 40 und 50 ist dann so der Durchschnitt und die höchste Wahlbeteiligung ist immer bei den 60- bis 70-Jährigen. Und ganz am Ende, wenn die Leute dann wirklich krank sind und nicht mehr können, dann nimmt die Wahlbeteiligung wieder ab."
    Wenig Parteibindung bei Jüngeren

    Viele Ältere sähen den Urnengang noch immer als ihre staatsbürgerliche Pflicht an, sagt Merz.
    "Das ist tatsächlich etwas, was bei älteren Bürgern stärker ausgeprägt ist, aber das ist natürlich auch etwas, was im Laufe der Zeit wächst. Wenn man beruflich, privat mehr Verantwortung übernimmt, dann steigt natürlich auch der Stellenwert von solchen Themen. Es steht nicht so im Fokus für die Jugendlichen. Es ist nicht so klar, warum es für sie wichtig ist."
    Lässt bei älteren Wählern die Parteibindung im Vergleich zu früher nach, so ist diese bei den jüngeren meist nicht vorhanden. Das sei aber natürlich, sagt Wahlforscher Merz, sie stünden ja erst am Anfang ihrer Wahlkarriere. Interessant sei aber, wen die Jungen wählten.
    "Das sind zum einen durchgängig die Grünen, [die] sind bei den Jungen deutlich populärer als insgesamt. Dann aber auch viele andere Kleinparteien. Die Piraten ganz besonders stark nach wie vor, obwohl sie nicht mehr einen so hohen Stellenwert haben. Und dann auch viele kleine Parteien, die man jetzt so in der Öffentlichkeit gar nicht wahrnimmt."
    Da seien die Jungen sehr viel experimentierfreudiger als die Älteren.
    Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel winkt am 12.08.2017 in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) bei einer Wahlkampfver Veranstaltung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).
    Junge Menschen experimentieren gerne in Sachen Parteien: 2013 lag Merkel bei Jungwählern allerding vorn. (dpa /Ina Fassbender)
    2013 war CDU ganz vorne bei den Jungen
    Es gibt aber auch eine gegenläufige Tendenz. Unter den Jungwählern gibt es auch starke Präferenzen für das Bewährte, konkret: Merkels CDU.
    Bei der Bundestagswahl 2013 war die Union nicht nur bei den Rentnern, sondern auch bei den Erstwählern die Nummer eins. Von denen stimmten 30 Prozent für CDU und CSU. Der SPD gaben 24 Prozent der Neuwähler ihre Stimme. Hinzu kommt, sagt Wahlforscher Merz:
    "Auch rechte oder rechtsextreme Parteien sind bei jungen Wählern immer deutlich stärker vertreten."
    Bei der Alternative für Deutschland sei das Bild aber noch nicht eindeutig. Bei der Bundestagswahl 2013 habe sie bei jungen Wählern unterdurchschnittlich abgeschnitten, sagt Merz. Damals sei das Profil der Partei als eurokritische Professorenpartei aber auch noch deutlich anders gewesen.
    Seither habe die inzwischen mitunter nationalistisch auftretende Partei bei Landtagswahlen vor allem im Osten bei den Jungen stark gepunktet.
    "Also ich finde auf alle Fälle, dass die Bundesregierung nur die ältere Generation anspricht. Also ich weiß zwar nicht, wie es im Bundestag aussieht, aber vom Gefühl her, vor der Kamera sehe ich auch immer nur die Generation 40, 50 aufwärts, also diejenigen, die Politik machen."
    Kein Anreiz für "Zweitwähler"
    Conny, 23, Studentin in Leipzig, darf mittlerweile zum zweiten Mal wählen. Damit gehört sie zu einer Gruppe, bei der eine deutliche Delle in der Wahlbeteiligung zu beobachten ist. Der Reiz, endlich wählen zu dürfen, der bei Erstwählern für ein kleines Anfangs-Hoch sorgt, ist für diese "Zweitwähler" verflogen. Mit Conny sind wir zum Interview via Whatsapp-Sprachnachricht verabredet.
    "Ich muss echt zugeben, vor vier Jahren war ich besser informiert als jetzt, vor vier Jahren hab ich wirklich mich hingesetzt, den Wahlomat gemacht, mich zu den Parteien im Internet belesen. Dieses Jahr lass ich das auf mich zukommen. Weil ich von Anfang an wusste, was ich wähle."
    Angela Merkel soll noch eine Chance bekommen, sie habe einen guten Job gemacht. "Deshalb hab ich mich in diesem Jahr bewusst auch gar nicht informiert."
    Mit Parteien hat sie in ihrem Alltag zwischen Uni und Praktikum wenig zu tun, sie interessieren sie eigentlich auch gar nicht.
    "Parteien sind nicht flexibel"
    Zwar hat es nach dem Brexit-Votum, dem Wahlsieg Donald Trumps, vor allem aber nach der Kür von Martin Schulz zum SPD-Chef und Kanzlerinnenherausforderer eine Welle von Eintritten bei den Parteien und ihren Jugendorganisationen gegeben. Dennoch hätten diese langfristig ein Problem, sagt Wolfgang Gründinger. Die Jungen seien nicht mehr bereit, sich an Organisationen zu binden.
    "Das hängt auch damit zusammen, dass die Parteien für junge Menschen nicht gemacht sind. Junge Menschen sind heutzutage flexibel, sie sind mobil, sie sind digital. Parteien sind genau das Gegenteil. Sie sind nicht flexibel, sie sind sehr starr organisiert, sie sind nicht mobil, sie sind sehr am Ortsvereinsprinzip verhaftet."
    Das heißt: Für eine Parteikarriere ist es wichtig, möglichst lange im selben Kreis- oder Landesverband zu bleiben, weil hier über Wahlkreise und Listenplätze entschieden wird. Daran ändern auch die jüngst entwickelten Online-Mitmachformate etwa der CDU nichts. Die notwendige Ortstreue geht aber an der Lebenswelt vieler junger Menschen vorbei, die für Studium oder Job öfter umziehen müssen.
    Je weniger Parteien jedoch eine Rolle im Leben junger Menschen spielten, desto größer sei die Gefahr, dass diese dann auch Wahlen weniger Bedeutung zumäßen.
    "Weißt du denn schon, was du wählen willst? Oder beziehungsweise: welchen Eindruck macht denn der Wahlkampf auf dich im Moment?"
    Auch Marisa antwortet per Whatsapp-Sprachnachricht. Die Leipziger Studentin ist bei den Grünen aktiv und damit eher eine Ausnahme. Und doch:
    "Klar man sieht manchmal an der Straße die Plakate hängen, aber für mich ist es eher noch wischi-waschi. Ich könnte jetzt tatsächlich auch gar nicht wirklich die Themen benennen, die alle auf ihrer Agenda haben - außer von der Partei, die ich gerne wählen möchte. Und wen ich wählen werde, das weiß ich schon."
    Mehr Kanäle im Wahlkampf bespielen
    Plakate. Für Michael Kellner, der als Bundesgeschäftsführer den Wahlkampf der Grünen leitet, sind die längst nur noch ein Instrument unter vielen. Gerade wenn man junge Wähler erreichen wolle, dann müssten sich die Parteien schon deutlich mehr einfallen lassen. Zwar gebe es noch immer den Erstwählerbrief, aber selbst die Webseite der Partei, die im Wahlkampf 2013 noch eine zentrale Rolle gespielt habe, diene heute eher als Visitenkarte. Viel mehr spiele sich in den sozialen Netzwerken ab.
    "Das Mediennutzungsverhalten ist ein deutlich anderes." Daher müssten im Wahlkampf deutlich mehr Kanäle bespielt werden. Der Whatsapp-Newsletter der beiden Spitzenkandidaten sei nur ein Beispiel für eine sehr persönliche Ansprache, denn, das sei sein Eindruck, sagt Kellner, junge Leute seien nicht weniger an Inhalten interessiert als früher.
    "Ich brauche halt die Inhalte, die ich erzähle, in einer Form aufbereitet, so dass ich sie auch auf Youtube, auf Instagram, im Facebook als Geschichte erzählen kann."
    Junge Leute seien außerdem daran gewöhnt, interagieren zu können. Also, nur Lesen oder Kommentieren alleine reiche ihnen oft nicht mehr, sagt Marco Buschmann. Er ist der Bundesgeschäftsführer der FDP und für den Wahlkampf zuständig.
    "Was zum Beispiel sehr sehr gut angenommen wird, ist, wenn sich Christian Lindner einfach auf seinen Balkon setzt seiner Wohnung, einfach sich mal eine halbe Stunde Zeit nimmt, das Tablet einschaltet und sagt: 'So, Ihr könnt mich jetzt alles fragen, ihr könnt einfach drunterposten, und ich versuche einfach, so viele Fragen wie möglich zu beantworten'. Also, wo es gar nicht so inszeniert wirkt, wo kein Moderator ist, wo nicht irgendein Redaktionsteam vorher überlegt hat, was darf man denn jetzt den Herrn Lindner fragen oder nicht, sondern wo die Leute ungefiltert ihre Frage hinschicken können."
    MrWissen2go erklärt politische Themen
    Auch die CDU setzt auf eine fast direkte Kommunikation mit potenziellen Jungwählern. Nachdem 2015 der Youtuber LeFloid Angela Merkel im Kanzleramt Fragen stellen durfte, wird sich die Kanzlerin am Mittwoch live von gleich vier Youtube-Stars befragen lassen, deren Kanäle zusammen rund drei Millionen Fans haben. Unter dem Hashtag #DeineWahl haben die vier Fragen und Themen ihrer Fans gesammelt.
    Mit dabei: MrWissen2go alias Mirko Drotschmann. Auf seinem Youtube-Kanal, den 500.000 Leute abonniert haben, erklärt er regelmäßig politische Themen.
    "Am 24. September ist Bundestagswahl, da erzähle ich euch wahrscheinlich nichts Neues. Und wenn ihr mein Video gesehen habt, über die Union, das findet ihr, wenn ihr oben auf das I klickt, dann wisst ihr auch, dass CDU/CSU wieder Angela Merkel ins Rennen schicken. Aber die große Frage ist natürlich, was will diese Frau eigentlich? Und wie sehen ihre Pläne für die zukünftige Politik aus, und wie schaut sie auf ihre vergangenen Entscheidungen zurück. Das sind Fragen, bei denen ich mir immer wieder denke: Die würde ich ihr gern persönlich stellen und ich weiß, dass das viele von euch auch gerne machen würden."
    Ischtar Isik kümmert sich vor allem um Kosmetik und Mode, sie hat 1,1 Millionen Fans auf Youtube.
    "Ich bin schon ein bisschen aufgeregt, muss ich sagen. Ihr könnt mir gern noch Fragen oder Themen in die Kommentare schreiben, die euch interessieren würden, die ich unserer Bundeskanzlerin stellen soll. Auf jeden Fall wollte ich das nur vorab sagen. Und jetzt starten wir mit dem Video. Ich fange wie immer mit der Kategorie Beauty erstmal an. Und zwar mit meinem liebsten Augenbrauenstift."
    Das Logo von Youtube.
    Die Geschichten, die Politiker erzählen wollen, müssen zum jeweiligen sozialen Netzwerk passen. (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
    Wählen ab 16 - eine Option?
    Doch selbst wenn die vier Youtuber Millionen Fans erreichen: Wählen dürfen viele von ihnen noch nicht. Denn nach wie vor liegt das Wahlalter bei der Bundestagwahl bei 18 Jahren. Ein Fehler, findet Jutta Allmendinger. Die Soziologin ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung: Unter anderem ihre große Studie darüber, wie die Deutschen leben wollen, habe gezeigt, dass die hohen Flüchtlingszahlen das politische Interesse vieler Jugendlicher enorm gesteigert hätten. Die Jungen wollten sich politisch einbringen.
    "Dazu müsste aber meines Erachtens unabdingbar auch das Wahlrecht mit 16 eingeführt werden. Ich unterrichte hier in Berlin, ich habe 17-Jährige Studierende, die dann über Politik zu diskutieren haben, ohne dass sie selbst überhaupt die Möglichkeit haben zu wählen. Das finde ich einen sehr paradoxen Zustand, dass man auf der einen Seite mit dem Leben immer sagt: schneller, schneller, schneller, die Schulzeit verringert, aber andere Rechte parallel nicht gibt."
    Mehrere Bundesländer haben inzwischen das Wahlalter auf 16 gesenkt. Schleswig-Holstein ist das jüngste Beispiel. Dort durften im Mai erstmals auch 16- und 17-Jährige mitwählen.
    Auf Bundesebene bleibt für Jugendliche in diesem Alter nur die Jugendwahl U-18 - eine Simulation, die bundesweit an vielen Schulen durchgespielt wird. "Wählen" dürfen die Schülerinnen und Schüler immer neun Tage vor der eigentlichen Wahl. Dieses Mal also am 15. September. Zuvor gibt es für die Schulen zahlreiche Vorbereitungstage.
    Themen: Innere Sicherheit und die Vorratsdatenspeicherung
    "Wir müssen jetzt ein bisschen auf die Uhr gucken." Es bleiben erstaunlich viele Handys in den Taschen an diesem Vormittag im Teltower Rathaus. Die meisten der gut 100 Jugendlichen hören den Landesvorsitzenden der Partei-Jugendorganisationen gespannt zu. Die Podiums-Diskussion ist eines von vielen hundert Vorbereitungstreffen für die U-18-Wahl.
    Es ist Mitte Juli, draußen ist es heiß, und die Sommerferien stehen vor der Tür. Und doch, keiner der Schüler quatscht rein, als die nächste Frage aus dem Publikum kommt.
    "Meine Frage bezieht sich auf die Polizei, deren Aufstockung, weil die unterbesetzt ist."
    Innere Sicherheit, ein kompliziertes Thema, zudem die Vorratsdatenspeicherung gleich miteinbezogen wird.
    Matti Karstedt von den Brandenburger Jungliberalen - mit einer lebensnahen Antwort: "Und da wird dann immer das Argument gesagt, dass da nur die Meta-Daten gespeichert werden, wer wen angerufen hat, von wo und wie lange, nicht der Inhalt des Gesprächs. Aber, ganz ehrlich, wenn ich meine Ex-Freundin nachts um drei 16 Mal anrufe, dann weiß man trotzdem, was ich vermutlich wieder wollte."
    "Wählen ist ein Ausdruck meiner Meinung"
    Später geht es noch um das Für und Wider von Studiengebühren und die Legalisierung von Cannabis. Für Marlene und Nele, 18 und 17 Jahre alt, war es ein spannender Vormittag: "Ja, ich werde im September dann 18. Und dann darf ich zum Glück endlich wählen. Und darauf freue mich auch schon." Aufregend ist das, sagt Nele. Und ein bisschen cool.
    "Naja, ich finde, Wählen ist ein Ausdruck seiner eigenen Meinung, was man sonst eher gering machen kann. Man kann seine Meinung schon äußern, aber dann auf so einer großen Ebene, das ist ein Stück von der Demokratie, wenn nicht sogar das größte Recht der Demokratie zu wählen. Und ich werde auf jeden Fall wählen. Ich versuch auch immer alle Leute, die gegen das Wählen sind, zu überzeugen. Denn das ist ganz wichtig."
    Die FDP hat sie überzeugt, gerade wegen der Studiengebühren - für manche Ausbildung müsse man ja schließlich auch bezahlen. Dann sei das nur gerecht. Vielleicht wird es auch die CDU. Auch wenn sie sich darüber immer wieder mit ihren Freunden streitet. Dass sich die Grünen für die Legalisierung von Cannabis einsetzen, hat sie abgeschreckt, das sei doch viel zu gefährlich.
    Schwierige Aufgabe: Den Kontakt zur Jugend halten
    Konstantin Gräfe, Sprecher der Linksjugend Solid in Brandenburg, konnte Nele und Marlene nicht überzeugen. Schade, findet der 24-jährige Student, während er sein Info-Material sortiert. Aber er weiß, dass es manchmal schwierig ist.
    "Ich glaube, dass es einerseits schwierig ist, tatsächlich die Leute für langfristige Projekte, insbesondere parteinahe Projekte zu begeistern. Was ich aber nicht glaube, was ja auch immer so ein Bonmot ist, dass es eine unpolitische Jugend gibt. Sondern ich glaube, dass die Jugend sehr politisch ist, ich glaube aber auch, dass sie sich aber vom politischen System nur noch teilweise repräsentiert fühlt und auch nur noch teilweise eingebunden fühlt."
    Jugendliche müssten in ihrem konkreten Lebensumfeld Mitbestimmungsmöglichkeiten haben, das Leben solle so weiter demokratisiert werden, zum Beispiel in der Schule, sagt Gräfe. Es gebe eine diffuse Aversion gegen das Regierungssystem, weil scheinbar alles in Hinterzimmern beschlossen werde.
    Ob via Youtube, über ihre Jugendorganisationen, oder im direkten Gespräch: Für die Parteien bleibt es eine schwierige Aufgabe, den Kontakt zu den Jungen nicht abreißen zu lassen - sei es als Wähler oder als potentielle Parteimitglieder. Damit die "diffuse Aversion" nicht noch größer wird. Und damit die Themen der Jungen nicht völlig untergehen.