NS-Vergangenheit der Münchener Kammerspiele

Vergessene Schicksale von Theaterschaffenden

05:59 Minuten
Spielstätte der Münchener Kammerspiele - Außenansicht bei Nacht
Die Münchener Kammerspiele arbeiten die NS-Vergangenheit des Hauses auf – im Projekt "Schicksale". © Münchener Kammerspiele / Gabriela Neeb
Martin Valdés-Stauber im Gespräch mit Timo Grampes · 25.06.2020
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Etwa 150 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Münchener Kammerspiele wurden nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 verfolgt, viele ermordet. Später gerieten sie in Vergessenheit. Nun will man an ihre Schicksale erinnern.
Die Geschichte der NS-Zeit, das ist auch eine Zeit der ungesagten, vergessenen Schicksale. 2018 gab Intendant Matthias Lilienthal den Anstoß, die Geschichte der Münchner Kammerspiele in der NS-Zeit zu erforschen. Ans Licht gekommen sind bei dem Projekt "Schicksale" Geschichten von entrechteten, verfolgten und ermordeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
An fünf von ihnen möchten die Kammerspiele nun erinnern – mit Gedenktafeln, die vor der Spielstätte aufgestellt werden. Die Tafeln ehren die vom NS-Regime ermordeten Edgar Weil, Hans Tintner, Benno Bing, Julius Peter Seger und Emmy Rowohlt.

Verschiedene Lebenswege und Schicksale

"Das sind fünf ganz verschiedene Schicksale", sagt der Dramaturg Martin Valdés-Stauber, der das historische Rechercheprojekt leitet. Edgar Weil beispielsweise: ein junger Dramaturg, der sofort nach der Machtergreifung fliehen musste. Benno Bing, der über viele Jahre hinweg geschäftsführender Direktor der Kammerspiele war und 1933 fliehen musste, schließlich von den Nationalsozialisten in Frankreich gefasst und im KZ Auschwitz ermordet wurde. Oder Emmy Rowohlt, die in einer psychiatrischen Heilanstalt zu Tode gehungert wurde. Sie sei eines der Opfer der nationalsozialistischen "Krankenmorde".
Auf dem Premierenzettel des Theaterstücks "Trommeln in der Nacht" an den Münchener Kammerspiel (1922) sind die vom NS-Regime verfolgten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verzeichnet.
Vom NS-Regime verfolgte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.© Münchener Kammerspiele
Viele der Biografien seien über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, sagt Valdés-Stauber, was auch mit der Nachkriegsgeschichte der Bühne zu tun habe: "Im Fall der Kammerspiele gibt es eine sehr spezifische Geschichte von Personen, die den Krieg überlebt haben, die während der NS-Zeit hier gewirkt haben – und die eine Erzählung gesponnen haben, in der diejenigen, die weggehen mussten und fliehen mussten, nicht auftauchen. Und diese Bücher und Erzählungen wurden immer wieder als Quellen herangezogen."

Ein internationales, avantgardistisches Theater

Weswegen die Recherchen zum Projekt "Schicksale" gezwungen war, anderen Spuren nachzugehen. "Und wir sind mittlerweile bei 150 Personen, die in der Zeit der Weimarer Republik an den Münchener Kammerspielen gewirkt haben und die dann ab 1933 mit der Machtergreifung verfolgt wurden, entrechtet, Berufsverbot erleiden mussten oder ermordet worden sind."
Dabei sei im Zuge der Recherche noch einmal der große Umbruch mit der Machtergreifung 1933 deutlich geworden: "Allein im Jahr 1933 mussten über 120 Personen, die an den Münchener Kammerspielen gewirkt haben, mit einem Schlag Deutschland verlassen."
Die Recherche habe auch den Blick auf die Münchener Kammerspiele und deren Ursprünge verändert, so Valdés-Stauber. Es sei deutlich geworden, dass das Theater sehr international und sehr avantgardistisch gewesen sei. "An diese Ursprünge der Kammerspiele versuchen wir anzuknüpfen."
(lkn)
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