Dienstag, 16. April 2024

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Deutsche Orchesterkonferenz zum Thema Musikvermittlung
"Massiver Bewusstseinswandel in den Orchestern"

Musikalische Frühförderung, Spezialprogramme für ein junges Publikum in den Konzertsälen, Musik-Projekte im Kindergarten und an Schulen: Für den Nachwuchs wird einiges getan. Das sei aber immer noch nicht genug, sagte Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, im Dlf.

Gerald Mertens im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 24.04.2018
    Sir Simon Rattle, Chefidirgent der Berliner Philharmoniker, bei einem Klassikkonzert in der Waldbühne. Er engagiert sich in der Musikvermittlung
    Sir Simon Rattle, Chefidirgent der Berliner Philharmoniker, engagiert sich in der Musikvermittlung (imago / Kai Horstmann)
    Maja Ellmenreich: Bei der Deutschen Orchesterkonferenz in Halle wird nicht nur über Stellenabbau, Tarifverträge und Unterfinanzierung gesprochen. Darum geht es natürlich auch beim alle drei Jahre stattfindenden Treffen, zu dem die Deutsche Orchestervereinigung als Gewerkschaft einlädt. Doch zentrales Thema ist heute in Halle die Musikvermittlung. Muss man mit Orchestermusikern in Deutschland wirklich noch grundsätzlich über Musikvermittlung sprechen? Ist das im Jahr 2018 nicht eine Selbstverständlichkeit?
    Gerald Mertens: Selbstverständlich ist es noch nicht ganz. Wir haben eine sehr große Entwicklung jetzt in den vergangenen Jahren hinter uns. Ab 2001/2002 – das liegt ein bisschen mit dem Antritt von Simon Rattle bei den Berliner Philharmonikern zusammen – hat es wirklich einen massiven Bewusstseinswandel in den Orchestern gegeben. Das Education-Programm der Berliner Philharmoniker war seinerzeit maßstabsetzend. Aber es ist jetzt Zeit, auch Bestandsaufnahme zu betreiben, und darum ging es heute auch in der Deutschen Orchesterkonferenz.
    Der Musikgeschmack bildet sich bis zum sechsten Lebensjahr
    Ellmenreich: Vielleicht blättern Sie mal ein wenig die Palette mit Beispielen auf. Was versteht man alles unter Musikvermittlung? Welche Aufgaben und Aktivitäten gehören dazu?
    Mertens: Inzwischen ist das Programm der Musikvermittlung sehr weit aufgefächert - insbesondere auf Altersgruppen. Da gibt es Konzerte für schwangere Frauen mit ihren Kindern im Krabbelalter. Dann gibt es Kindergartenkonzerte wirklich für die Kleinsten. Dann Vorschulbereich. Dann den Grundschulbereich. Das sind im Grunde genommen die Bereiche, die auch pädagogisch am herausforderndsten sind. Aus der Forschung wissen wir, der Musikgeschmack, das Fenster sozusagen, beginnt sich mit dem sechsten Lebensjahr schon zu schließen. Und mit dem zwölften Lebensjahr, mit dem Eintritt der Pubertät, ist quasi der Musikgeschmack eines Kindes dann auch geprägt. Insofern ist es so wahnsinnig wichtig, dass die Orchester so früh ansetzen, um hier die nächste Zuhörergeneration schon ganz, ganz früh abzufangen.
    Musikalische Grundausbildung in Familien ist zurückgegangen
    Ellmenreich: Also kommen wir zu dem Schluss, dass die deutschen Orchester selbst für die Nachfrage sorgen müssen, für ihr Angebot, um es mal ein bisschen kaufmännisch zu formulieren. Ohne sich selbst darum zu kümmern, würden sie gar nicht mehr gefragt sein?
    Mertens: Das ist in der Tat richtig, weil wir ja auch wissen, dass in den Familien, wo früher die musikalische Grundausbildung erfolgte, wo gemeinsam gesungen wurde oder auch gemeinsam musiziert wurde, dass das wirklich zurückgegangen ist. Ähnlich desaströs ist ja auch die Situation des Schulmusikunterrichts. Genau vor diesem Hintergrund sind die Orchester gefordert, gegenzuwirken, und es gibt ein sehr schönes Beispiel aus der jetzigen Spielzeit: Das WDR-Sinfonieorchester ist mit dem Programm "Dackel trifft Mozart" in ganz Nordrhein-Westfalen in einer Woche unterwegs gewesen und haben 20.000 Schulkinder erreicht, und das ist im Grunde genommen nur eines von vielen Programmen, was bundesweit läuft. Und das ist sehr erfreulich, dass auch die Nachfrage so groß ist.
    Berufsbild des Musikers verändert sich
    Ellmenreich: Jetzt ist die Nachfrage groß. Stellt sich die Frage, wie das auf der Angebotsseite aussieht. Vormittags in die Probe gehen, abends auf der Bühne oder im Orchestergraben zu sitzen, das reicht offensichtlich nicht mehr aus. Inwiefern hat sich durch Musikvermittlung, Audience Development, das Berufsbild, der Berufsalltag von Orchestermusikern geändert - Orchestermusiker, die Sie ja als Deutsche Orchestervereinigung vertreten?
    Mertens: Das Berufsbild verändert sich in der Tat, weil heute sehr viel mehr Musiker und auch Konzertpädagogen und Musikvermittler in den Häusern tätig sind und natürlich Musiker aus dem Orchester gewinnen, zum Beispiel in den Kindergarten zu gehen und dort ihr Instrument vorzustellen. Und das nächste Kinder- oder Familienkonzert vorzubereiten, das ist dann wirklich die ganz hohe Kunst, dass ein strukturiertes Programm an einem Standort stattfindet, wo dann Musiker zur Vorbereitung mit den Schulmusikern oder auch mit den Kindergartenerzieherinnen arbeiten, dann in den Kindergarten gehen und anschließend die Kindergartenkinder schon entsprechend vorbereitet in das Konzert kommen. Wenn es gut läuft, fordern die Kinder dann von ihren Eltern, doch wieder ins nächste Kinderkonzert zu gehen. Dann ist es ideal.
    Ellmenreich: Nun ist die Musikvermittlung nicht nur eine Aufgabe, der sich die Musiker widmen müssen. Das Fach kann man ja mittlerweile an mehreren Hochschulen in Deutschland studieren. Das ist aber auch nichts, was man einfach mal so nebenbei macht in einem Orchesterbüro. In den Orchesterverwaltungen gibt es inzwischen eigene Stellen für Profis, die sich darum kümmern. Sind das nicht vielleicht Ressourcen, die dann aber womöglich woanders wieder fehlen?
    Musikvermittlung muss professionalisiert werden
    Mertens: Die Frage der Ressourcen ist eine ganz berechtigte. Die haben wir gerade in den Anfangsjahren, Anfang der 2000er-Jahre gestellt, so nach dem Motto: Na ja, ist das nicht eigentlich eine Bildungsaufgabe? Muss Bildung nicht aus einem anderen Topf finanziert werden? Aber am Ende des Tages ist diese Diskussion müßig. Es ist letztlich eine Entscheidung eines Intendanten oder eines Generalmusikdirektors, auch für diesen Bereich was zu tun. Nichts desto trotz sind die Arbeitsbedingungen von Musikvermittlerinnen und Musikvermittlern natürlich auch ein Diskussionspunkt, über den heute in Halle sehr intensiv gesprochen wurde. Es wurde eine Studie vorgestellt, wo diese Arbeitsbedingungen erstmalig untersucht worden sind, und daraus wird man auch für die Zukunft dann Schlüsse ziehen müssen, was eigentlich an den Konzerthäusern, an den Musiktheatern noch geschehen muss, um den Musikvermittlungsbereich zu professionalisieren. Denn er muss am Ende des Tages pädagogisch und inhaltlich genauso professionell sein wie der Anspruch an den Berufsmusiker.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.