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Calais
Der "Dschungel" ist weg - die Flüchtlinge nicht

Wo sich noch 2016 der berüchtigte "Dschungel von Calais" erstreckte, ist heute ein Naturschutzgebiet hinter Zäunen. Flüchtlinge gibt es hier und in anderen Küstenorten trotzdem noch. Mit einem erweiternden Abkommen wollen Frankreich und Großbritannien Schlepper und Asylsuchende vom Grenzübertritt abhalten.

Von Jürgen König | 18.01.2018
    Das rund 9.000 Bewohner zählende wilde Flüchtlingslager, der sogenannte Dschungel von Calais, im September 2016. Kurze Zeit später wurde es geräumt.
    Das rund 9.000 Bewohner zählende wilde Flüchtlingslager, der sogenannte Dschungel von Calais, im September 2016. Kurze Zeit später wurde es geräumt. (picture alliance / dpa / Irina Kalashnikova)
    Den "Dschungel von Calais" gibt es nicht mehr. Das im Herbst 2016 geräumte Wald- und Strandgebiet, auf dem bis zu 9.000 Flüchtlinge teilweise monatelang lebten – es wurde zum Naturschutzgebiet erklärt und eingezäunt – Schilder, wohin man kommt: "Betreten verboten!" Und tatsächlich: weit und breit keine Zelte, keine Reste von Zelten, keine Flüchtlinge mehr.
    Am Hauptstrand von Calais wird in großem Stil gebaut: Neue Parkplätze, breite Promenaden sollen der Stadt wieder Flair verleihen – auf der Mole und an zugänglichen Teilen des Strandes trifft man Spaziergänger, die das Meer, die Brandung, den stürmischen Wind genießen.
    "Ich finde das märchenhaft, wunderbar! Wenn die Natur so entfesselt ist, das hat eine solche Schönheit!"
    Migrant berichtet von Polizeigewalt
    Wenn es den "Dschungel" auch nicht mehr gibt – Flüchtlinge gibt es in Calais und Umgebung nach wie vor, etwa 300 bis 500 Menschen, schätzen die Hilfsorganisationen, doch im Straßenbild fallen sie nicht auf. Jedes Nachtlager, jedes Zelt wird auf Anweisung der Regierung sofort geräumt, trotz eisiger Kälte konfiszierte die Polizei auch die Schlafsäcke der Migranten. Unter einer Brücke am Stadtrand sehe ich am Abend drei Menschen, die dabei sind, aus mehreren Planen eine Art Zelt aufzubauen – ich spreche sie an, lerne Meles aus Äthiopien kennen:
    "Wir sind vor dem Krieg geflüchtet. Wir sind nicht hier, um in Frankreich Probleme zu machen."
    Meles ist seit drei Wochen in Calais; wie so viele Flüchtlinge hier hat auch er nur eines im Sinn: an Bord eines Lastwagens möglichst schnell nach Großbritannien zu kommen – entweder auf einer Autofähre oder durch den Eurotunnel – zu Verwandten, wie er sagt.
    Migranten im rund 9.000 Bewohner zählenden wilden Flüchtlingslager, dem sogenannten Dschungel von Calais, im September 2016. Kurze Zeit später wurde es geräumt.
    Auch wenn der Dschungel geräumt ist, nach Großbritannien rübermachen wollen trotzdem viele Asylsuchende (picture alliance / dpa / Irina Kalashnikova)
    "Ich lasse mich nicht entmutigen. Ich versuche es immer wieder. Ich wurde auch schon von der Polizei festgenommen, und sie haben mich geschlagen. Angst hab ich nicht, wenn ich in mein Land zurückgehe, riskiere ich zu sterben – also … was sie auch machen, das ändert nichts."
    Calais soll zur Sackgasse für Flüchtlinge werden
    Vorwürfe der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, wonach die Polizei mit unangemessener Härte gegen Flüchtlinge vorgehe, wurden in einer vom Innenministerium beauftragten, unabhängigen Studie als "plausibel" bezeichnet. Bei seinem Besuch in Calais am Dienstag ging Präsident Emmanuel Macron in einer Rede vor Polizisten und Gendarmen erstaunlich deutlich und detailreich darauf ein:
    "Ich kann nicht zulassen, dass die Idee an Glaubwürdigkeit gewinnt, die Sicherheitskräfte würden physische Gewalt einsetzen, würden persönliche Dinge der Migranten konfiszieren, Menschen mitten in der Nacht wecken, sie mit Tränengas während der Essensausgabe festsetzen. Wenn das geschieht, ist das gegen jedes Berufsethos, wenn das geschieht und bewiesen wird, wird es bestraft."
    Mit Polizisten darüber ins Gespräch zu kommen, erweist sich als schwierig. "Einerseits sollen wir alle Regeln der Humanität" beachten, sagt einer, andererseits aber auch "absolut rigoros gegen Flüchtlinge vorgehen". Das könne man nicht immer nur "mit freundlichen Worten" tun.
    Tatsächlich legt Macron großen Wert darauf, neben dem Errichten von Lagern auch das Weiterkommen der Flüchtlinge zu verhindern, eine "Sackgasse" soll Calais für sie werden, keine "Durchgangsstation nach Großbritannien". Damit hofft Macron, Migrationsströme, wo es geht, gar nicht erst entstehen zu lassen und so Schlepperbanden das Handwerk zu legen.
    Der "Dschungel von Calais" ist längst anderswo
    In diesem Sinne soll heute auch das "Abkommen von Le Touquet" erweitert werden. 2003 war es geschlossen worden. Um die illegale Einwanderung nach Großbritannien zu verringern, wurden britische Grenzkontrollen schon in Frankreich erlaubt. Mit zusätzlichem Geld will Großbritannien sich an der Grenzsicherung künftig noch intensiver beteiligen; gleichzeitig sollen Verfahren zur Familienzusammenführung wie auch zur Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen in Großbritannien beschleunigt werden.
    Das Ziel ist klar: Einen "Dschungel von Calais" soll es nicht mehr geben, und es wird ihn wohl nie wieder geben. Denn die Migranten haben sich längst andere Ort gesucht, Le Havre und Dieppe, Ouistreham und Saint-Malo.