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Calvin in Zeewijk

Robert Haasnoot wurde im Jahr 1961 im amerikanischen New Jersey geboren. Aufgewachsen ist er in dem niederländischen Fischerdörfchen Katwijk, und wenn einen das Geburtsjahr nicht eines Besseren belehren würde, könnte man glauben, er habe dort auch seine Jugend verbracht - und zwar irgendwann um das Jahr 1900.

Von Hartmut Kasper | 30.07.2009
    Eigentlicher Held des Romans ist das niederländische Dorf Zeewijk, ein tief abergläubisches, in sich gekehrtes Gemeinwesen:

    "Das Gottvertrauen ist stark in unserem Dorf (...). Sozialisten und Gewerkschafter sind bei uns genauso unerwünscht wie Huren. "Der Arbeiter ist seines Lohnes wert", lautet ein Wort Gottes - ein klares Gebot, das Streiks überflüssig macht."

    Völlig überflüssig, denn der heimliche Regent der Zeewijker Seelenlandschaft ist der Reformator Johannes Calvin, jener Calvin, der die völlige Verderbtheit des Menschen entdeckte und den Calvinismus begründete. Demzufolge hätte Gott der Herr den Menschen vor Zeit und Ewigkeit, jedenfalls lang vor der Geburt entweder zum Heil des Paradieses bestimmt oder zur Hölle verdammt. Hier, wo der Calvinismus regiert, erscheint die Welt als große, stampfende Gottesmaschine, denn an Gottes Ratschluss ist nichts zu ändern, auch durch den frömmsten Glauben nicht. So können die Christenmenschen allenfalls versuchen, aus ihrem Los in dieser Welt Hinweise auf ihr Schicksal in der nächsten herauszulesen. Wer fleißig arbeitet und wem es darum gut geht, darf das als Zeichen lesen für eine gewisse Gewogenheit seitens des himmlischen Richters.

    Langschläfrigkeit und andere Weisen der Zeitvergeudung hingegen gelten als Sünde; fleißige Arbeit erscheint als Selbstzweck menschlichen Lebens.

    Doch "Der Erinnerer" ist kein calvinistisches Traktat, sondern eine Erzählung. Haasnoot erzählt die Geschichte des Dorfes nicht von oben herab, sondern lässt einen Botschafter reden, einen Ich-Erzähler, der selbst Teil des Mikrokosmos Zeewijk ist. Dieser Ich-Erzähler lebt als letzter Spross einer Chronistendynastie, die seit Generationen im Dienst der Barone aus dem Haus derer van Warsenhout steht. Schon der Vater und die Vorväter des Chronisten haben die Ereignisse der Dorfgemeinschaft aufgeschrieben und in Annalen gesammelt. Wobei bislang alle Mitglieder der Schreibersippe eine gewisse Klausel berücksichtigt haben, die Anweisung nämlich, in ihren Annalen Stillschweigen zu bewahren über die Gräueltaten der Barone, ihre schändlichen Ausschweifungen, zu denen Vergewaltigungen, Sodomie und andere Vergnügungen der Herren von Stand gehören.

    Es ist eine böse alte Zeit voller Zeichen und Wunder und düsterer Geborgenheit, eine Insel der Unseligen, die Auswärtige anzieht. So hat sich am Rand der Fischergemeinschaft eine kleine Künstlerkolonie angesiedelt, so hat sich auf den Dünen ein Zugezogener seine Villa gebaut, der als nervenkrank geltende Wijnand Marseau, Erbe eines Teehändlers, der auf Java sein Vermögen machte.

    Die Dorfgemeinschaft ist geprägt durch die merkwürdigsten Rücksichten gegen metaphysische Dinge. Zieht ein Sturm auf, weiß man dass an "einem solchen Tag (...) die Fischerfrauen nichts übereilt tun (dürfen), vor allem dürfen sie ihr Haar nicht bürsten oder lösen, damit der Wellengang um die Fischerboote nicht noch schlimmer wird."

    Der Dorfpastor ist sich seit Jahren sicher, in der Endzeit zu leben.

    War es früher schon schlimm, kommt es nun noch viel schlimmer: Raben ziehen ein ins Dorf, kapern den Kirchturm und errichten ein Schreckensregiment. Denn niemand zweifelt ernsthaft daran, dass dieser Zuzug "eine Plage, eine Strafe Gottes" ist.

    Es regt sich auch dann kein Zweifel, als im Umland des Dorfes und in den Dünen eine Kaninchenpest ausbreitet. Dass der Duft der Krankheit den Aasfressern leichte Beute verspricht und das Rabenvolk darum - und nicht der Sündhaftigkeit seiner Einwohner wegen - den Weg ins Dorf gefunden hat, lässt die Dörfler in ihrer Furcht nicht wanken.

    Das Übernatürliche, Unergründliche sitzt aber nicht nur auf dem Kirchturm und krächzt, sondern es zieht des Nachts in die ungeschützten Träume der Menschen ein. Der Chronist, der von seinem Vater auch die Kunst des Traumdeutens erlernt hat und in Sachen träumerischer Omen von den Dorfbewohnern konsultiert wird, träumt selbst einen seltsam ereignislosen Traum: In diesem Traum steht er irgendwo inmitten der Dünen und spürt: Dies ist ein heiliger Ort.

    Sonst tut sich nichts.

    Doch in seiner Eigenschaft als Traumberater erfährt er, dass nicht nur er diesen Traum träumt: einfache Fischer träumen ihn, der zugereiste Erbe, der Maler Johan Castelijne, ja selbst ein Muselman aus dem fernen Indien, Murshid Khan mit Namen, ist des Traumes wegen angereist und spaziert Sinn suchend in den Dünen von Zeewijk.

    Immer wieder scheint die Erzählung stillzustehen, zu einem Genrebild zu gerinnen, zu einem fast klischeehaft-typischen Bild niederländischer Malerei voller erdbrauner Stuben mit niedrigen Decken, Flüssen und Fischkuttern, säuberlichen Kirchen und einer das Leben bis an den Rand füllenden Gottesfurcht - eine Erzählung wie ein Gemälde von Jan und Pieter Breughel den Älteren, von Hans Bol und Josse de Momper.

    In Betrieb gehalten wird der schmale, novellistische Roman von zwei Erzähllinien: Wijnand Marseau, der zugereiste Erbe, verzweifelt mehr und mehr daran, dass sein Vater ihn verstoßen und einen unehelichen Sohn zum Nachfolger eingesetzt hat; am Ende begeht er Selbstmord. Viel gereist ist dieser Verstoßene, er kennt Java und Marokko. Marseau liefert dem Roman den "Gewürznelkenduft des Tabaks" und den "süßen, schäumenden Minzetee", eröffnet mit seinen Erinnerungen Fenster in exotische Länder.

    Der andere Erzählstrang wird vom Chronisten bestritten, ist seine Geschichte. Er lässt sich vom Maler Johan Castelijne porträtieren. Das Bild, das der Maler ihm schließlich vor Augen stellt, trägt den Titel "Die Dämmerung und der Kalvinist". Es entsetzt den Chronisten:

    "Ich hatte etwas Farbenfrohes erwartet. (...) "Ich sah mich auf einem hohen Sandhügel vor dem Dorf sitzen, des Nachts, (...) mein grässlich verzogener Mund schien meine Verzweifelung herauszuschreien; meine Augen waren weit aufgerissen."

    Der Künstler selbst dagegen ist mit dem Bild zufrieden: "Nicht das kleinste Himmelslicht kommt durch. Und schauen Sie sich das Gesicht des Mannes an: Man sieht, wie ihm der Zweifel an seiner Errettung die Kehle zuschnürt. Seine Angst vor Gott. Die Furcht vor der Hölle. (...) Ich" - sagt der Maler, aber der Autor Haasnoot könnte es ebenso gut von seinem Roman sagen: - "Ich habe gleichsam in Ihre Augen die ganze Urangst und Gottesfurcht dieses Dorfes und aller Zeiten gelegt."

    Es ist eine böse Zeit voller Zeichen, und es nimmt den Leser nicht Wunder, dass die Geschichte nicht gut ausgeht. Die Ehe, auf die der Erzähler gehofft hat, kommt nicht zustande, und so steht die Chronistensippe vor dem Aussterben. Immerhin begehrt der Chronist ganz am Ende gegen den Gang der Dinge auf. Zusammen mit einigen Mitstreitern vertreibt er die Rabenkolonie mit Feuer und Salz.

    Aber es ist der Aufstand eines moralisch Diskreditierten, denn am Ende erweist sich die ganze Chronik auch als ein Stück Kriminalgeschichte, als Historie eines kleinen und schäbigen Verrates, den der Erzähler begangen und den er mit dieser Erzählung seiner Nachwelt enthüllt hat.

    Und den einzigen gemeinsamen Traum der Dorfgemeinschaft, den Traum von dem stillen, heiligen Ort inmitten der Dünen, hat am Ende der durchgereiste Mohammedaner mitgenommen.

    Robert Haasnoot: Der Erinnerer
    207 Seiten
    Roman. Berlin Verlag, Berlin 2008
    EUR 19,90