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Studie
Gewalt an Schulen geht seit den 90er-Jahren zurück

Nimmt die Gewalt an Schulen zu? Nein, meint Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut in München. Insgesamt habe die Schulgewalt seit den 90er-Jahren abgenommen, sagte er im Dlf. Gleichzeitig sei aber die Sensibilisierung für das Thema gestiegen. Fischer warnte vor einer Verallgemeinerung von Einzelfällen.

Thomas Fischer im Gespräch mit Manfred Götzke | 28.03.2018
    Zwei Schüler prügeln sich am auf dem Schulhof eines Gymnasiums
    Der Jugendforscher Thomas Fischer warnt vor einer Hysterisierung in Bezug auf Gewalt an Schulen (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Manfred Götzke: Sicherheitsleute, die vor Grundschulen stehen, antisemitische Mobbingattacken, auch bewaffnete Schüler – schaut man sich die Berichte der letzten Tage und Wochen an, auch in unserem Programm, dann könnte man den Eindruck gewinnen, die Situation an den Schulen in Deutschland, die gerate mehr und mehr außer Kontrolle. Gerade die Gewalt eskaliert immer weiter. Der Chef des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, der warnt sogar schon vor amerikanischen Zuständen an deutschen Schulen. Aber stimmt das überhaupt? Das Deutsche Jugendinstitut wertet seit Jahrzehnten verschiedenste Studien aus, die sich mit Schulgewalt auseinandersetzen, und mit Thomas Fischer habe ich darüber gesprochen, ob es wirklich so ist, dass die Gewalt an den Schulen in den letzten Jahren tatsächlich zugenommen hat oder ob es sich da eher um ganz subjektive Eindrücke handelt.
    Thomas Fischer: Auf der Grundlage von Statistiken und Dunkelfeldbefragungen, vor allem Schülerbefragungen, lässt sich sagen, dass es eher ein subjektiver Eindruck ist. Also nach diesen Statistiken und Studien zeigt sich keine Steigerung der Gewalt, im Gegenteil, es ist seit den 90ern sogar abgesunken.
    Götzke: Wie stark abgesunken und woran machen Sie das konkret fest?
    Fischer: Kurz vorab, welche Daten zur Verfügung stehen: Es gibt die polizeiliche Kriminalstatistik, also alle der Polizei bekannt gewordenen Straftaten werden dort ausgewiesen. Das bedeutet auch, dass Delikte, die nicht angezeigt werden oder ermittelt werden bei der Polizei, verbleiben im Dunkelfeld. Aber ein ganz wesentlicher Punkt sind Dunkelfeldbefragungen, die in Deutschland durchgeführt werden, also gerade in Form von Schülerbefragungen. Und auch hier zeigt sich ein Rückgang von Schulgewalt seit den 90er-Jahren.
    Götzke: Sie haben jetzt gerade vom Rückgang der Gewalt in Bezug auf die letzten 20, 25 Jahre gesprochen. Wenn man sich jetzt so neuere Zahlen und Entwicklungen anschaut, sagen wir mal der letzten zwei oder drei Jahre, gilt das für diesen Zeitraum auch, oder kann man da tatsächlich feststellen, okay, da hat die Gewalt wieder etwas zugenommen an den deutschen Schulen?
    Fischer: Es gibt schon Daten, länder-, bundesländerspezifische Daten gerade zu absoluten Zahlen an Schulen. Dort ist, wenn man wirklich nur die absoluten Zahlen als Grundlage nimmt, ein Anstieg zu verzeichnen, hier stellt sich aber die Frage, wie lässt sich der richtig einordnen. Wenn die Verbindung nicht zu der Personengruppe, also wie viele besuchen gerade die Schule - dann lassen sich allgemeine Entwicklungen retrospektiv nicht nachzeichnen.
    "Tabuisierung von Gewalt führt natürlich auch zu einer Sensibilisierung"
    Götzke: Okay, da müssen wir dann vielleicht noch ein bisschen abwarten, um das Ganze in Relation setzen zu können.
    Fischer: Richtig.
    Götzke: Wenn wir uns jetzt noch mal den Rückgang der Gewalt, den Sie ja gerade schon geschildert haben, anschauen, was sind denn aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
    Fischer: Ein wesentlicher Punkt, es wurde in den letzten Jahren sehr viel gerade im Bereich Schule gemacht, also da ist eine sehr positive Entwicklung auch zu verzeichnen, also gerade sozialpädagogische Angebote in der Schule haben stark an Bedeutung gewonnen – ob es jetzt um spezifische Schülertage geht, aber auch strukturell in der Schulentwicklung hat sich einiges getan, was sich zum Beispiel zeigt in der Schulsozialarbeit. Schulsozialarbeit findet sich immer mehr an Schulen und an immer mehr Schulen und kann sowohl für die Themen sensibilisieren als auch in Einzelfällen dann auch unterstützend und vermittelnd wirken.
    Götzke: Welche Rolle spielt das Elternhaus? Vor, sagen wir mal, 20, 25 Jahren war Gewalt im Elternhaus, ja, sagen wir mal, noch nicht so tabu wie heute, oder?
    Fischer: Richtig, also gerade in der kriminologischen Forschung zeigt sich, dass gerade das ein wesentlicher Faktor ist, also wie ist das Gewaltverständnis und das Gewalthandeln in der Familie und im Rahmen der Erziehung. Da ist es auch wirklich so, dass natürlich früher Gewalt weniger tabuisiert war, als es jetzt ist, und diese Tabuisierung von Gewalt führt natürlich auch zu einer Sensibilisierung zu dem Thema.
    "Grundsätzlich ist natürlich zu sagen, dass diese Sensibilität gut ist"
    Götzke: Das heißt, wenn wir jetzt über einzelne Fälle sprechen, die dann bundesweit für Aufsehen sorgen, sagen wir mal Beispiel Baden-Württemberg, wo ein Siebenjähriger seine Lehrerin mit einem Messer verletzt hat, da sind wir einfach viel stärker sensibilisiert, und deswegen kommt es dann zu einer subjektiven Wahrnehmung, okay, die Gewalt hat hier massiv zugenommen und auch die Brutalität?
    Fischer: Richtig. Grundsätzlich ist natürlich zu sagen, dass diese Sensibilität gut ist, allerdings wird mit dieser Sensibilisierung natürlich auch ein gewisser emotionaler Aspekt verbunden. Gerade Gewalt an Schulen ist ein sehr emotional besetztes Thema. Wir geben unsere Kinder in die Obhut der Schule und haben auch da das Vertrauen, dass sie dort sicher sind. Und entsprechend besorgt natürlich auch jeder Bericht und jeder Fall, der irgendwie zur Kenntnis gelangt und der bekannt wird.
    Götzke: Das heißt, wir sollten gerade auch beim Thema Schulgewalt aufpassen vor einer Hysterisierung?
    Fischer: Das Wort würde ich jetzt nicht benutzen. Man muss sich einfach auch bewusst werden, aufgrund welcher Erkenntnisse man dieses Bild hat. Es gilt grundsätzlich, dass Einzelfälle nicht verallgemeinert werden dürfen, auch im Sinne von unseren Kindern und Jugendlichen, einfach, dass hier keine Stigmatisierung, kein Labeln erfolgt und sie quasi unter Generalverdacht gestellt werden, und auch Schulen nicht. Das ist einerseits wichtig, und natürlich ist es auch so, dass jeder Einzelfall immer auch ein Fall zu viel ist und deswegen auch dieser Aufmerksamkeit bedarf zu diesem Thema und der Diskurs dazu auch absolut wichtig ist.
    Götzke: Sie haben ja schon gesagt, die alltägliche Gewalt an den Schulen hat eigentlich langfristig gesehen abgenommen, die Tatsache, dass manche Lehrer jetzt auch damit überfordert sind, dass es solche Dinge gibt wie Brandbriefe oder eben jetzt Security-Leute an Grundschulen sogar, hat das auch damit zu tun, dass die Lehrer das auch nicht mehr gewohnt sind, mit Einzelfällen von Gewalt umzugehen?
    Fischer: Es ist natürlich auch da eine Sensibilität da, und letztendlich muss man die auf jeden Fall immer auch ernst nehmen, gerade die Erfahrung aus der Fachpraxis – das ist wesentlich. Wir finden auch viele, die langjährige Berufserfahrung haben, die ja auch sozusagen aus ihrer Sicht Entwicklungen nachzeichnen können. Auch hier muss man natürlich aufpassen, keine Verallgemeinerungen durchzuführen und irgendwie zuzulassen. Aber nichtsdestotrotz sind es gerade auch Erfahrungswerte, auf die man zurückgreifen muss und die man berücksichtigen muss.
    "Nicht jede Schule hat sozusagen das Glück, einen Schulsozialarbeiter zu haben"
    Götzke: Was würden Sie den Schulen empfehlen, die beklagen, dass sie ein Problem mit Gewalt haben ganz aktuell?
    Fischer: Es gibt gerade in der Kriminalitätspräventionslandschaft sehr viele Programme, und da wäre es natürlich schön, wenn es irgendwie auch eine stärkere Vernetzung gibt. Es gibt viele Programme, wo zum Beispiel Schulen dann auch in ihrer konzeptionellen Entwicklung mehr Prävention sozusagen noch in die Schule bringen können. Nicht jede Schule hat sozusagen das Glück, einen Schulsozialarbeiter zu haben, der das quasi übernimmt, und da wäre es zum Beispiel eine Idee, auch auf regionaler Basis zu schauen, was gibt es denn für Angebote, die dann zum Beispiel auch in die Schule gehen und dann auch vor dem Hintergrund zu schauen, einen Raum zu schaffen in der Schule, um dieses dort zu ermöglichen.
    Götzke: Gewalt an Schulen hat langfristig gesehen nicht zu-, sondern eher abgenommen, sagt Thomas Fischer vom Deutschen Jugendinstitut in München.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.