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Camus hat "eine Charta der humanitären Arbeit geschrieben"

100 Jahre alt wäre der Autor Albert Camus heute geworden. Seine Werke seien immer noch aktuell, sagt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, der seine Doktorarbeit über Camus geschrieben hat. Auch heute breite sich die "Pest" - im übertragenden Sinne - in der Welt aus.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 07.11.2013
    Christoph Heinemann: Wir blicken jetzt zurück in eine Zeit, in der die Herren den Hosengürtel irgendwo zwischen Bauchnabel und Brustwarzen trugen. So war das noch in der Nachkriegszeit. Ab 1968 änderte sich auch das. Albert Camus hat diese Abwärtsbewegung des Hosenbundes nicht mehr miterlebt; er starb acht Jahre zuvor durch einen Autounfall. Heute vor 100 Jahren wurde er im damals französischen Algerien geboren, in ärmlichsten Verhältnissen. Zwei seiner wichtigsten Werke hat Camus noch während des Krieges geschrieben: den "Mythos von Sisyphos" – das ist der Typ mit dem Stein, von dem Camus überzeugt war, dass er letztendlich glücklich war – und "Der Fremde".

    In beiden Büchern geht es um die Schlüsselbegriffe seiner Philosophie oder seiner Gebrauchsanweisung für das Leben, das Absurde und die Revolte – sehr vereinfacht ausgedrückt - die teilweise unerträglichen Zustände, die wir vorfinden, wenn wir auf diese Welt kommen, und das, was wir daraus machen oder eben auch nicht machen. Das frühe Werk "Caligula", später "Die Pest", "Der Mensch in der Revolte" oder "Die Gerechten" sind dann Variationen dieses Themas.

    Mit Albert Camus hat sich vor Jahrzehnten und seither immer wieder unser Gesprächspartner beschäftigt: Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, wurde 1972 mit der Arbeit "Politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus" zum Doktor der Philosophie promoviert. Guten Morgen, Herr Dr.!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen!

    Heinemann: Wann und wie haben Sie Camus entdeckt?

    Neudeck: ‘58 hörte ich Predigten eines linkskatholischen Kaplans in Hagen/Westfalen, wo ich aufgewachsen und zur Schule gegangen bin, über "Die Pest" – ein Roman, von dem ich dachte, es wäre ein christlicher Roman. Das war es aber überhaupt nicht, wie ich später gemerkt habe. Ich bin dann die nächsten Jahre immer wieder auf Camus gestoßen, gleichermaßen auf Jean-Paul Sartre - das waren die beiden ganz großen Dioskuren des intellektuellen Lebens in Europa, auch nach dem Kriege in Deutschland -, und habe dann die Chance gehabt, meine Doktorarbeit darüber zu machen.

    Heinemann: Und Sie haben mir gesagt, Sie haben ihn neulich wiederentdeckt.

    Neudeck: In diesen Tagen, muss man beinahe sagen, erscheint eine ganze Fülle von sogenannten libertären Schriften Camus. Es wird bekannt, dass Camus eine ganz große Neigung und Verbindung hatte zur sogenannten anarcho-syndikalistischen Szene, die in Deutschland ganz verloren gegangen ist, die aber eine große Rolle gespielt hat in der Geistesgeschichte der linken politischen Bewegungen, die aber durch die Übermacht von Marx, Engels, Lenin in der Internationale praktisch beiseitegeschafft wurde. Diese anarcho-syndikalistische Szene und Politik bedeutet, dass man dem Staat nicht zu viel zutraut und dass man anfängt, selbst als Kollektiv und als Einzelner nicht nur auf den Staat zu setzen, die Bürokratie, die Gesetze und so weiter. Das ist im romanischen Raum, in Italien, Spanien, im spanischen Bürgerkrieg spielte die anarcho-syndikalistische Front eine ganz, ganz große Rolle. Camus hat uns eigentlich diese Welt wiederentdeckt.

    Heinemann: Und diese Unterstützung brauchte er dringend, denn vom Meister der Philosophie, vom damaligen, von Jean-Paul Sartre, wurde er geradezu gebannt. Was störte den Existenzialisten an dem Moralisten Camus?

    Neudeck: Alles. Sartre hat nicht verstanden und, ich glaube, auch nicht verstehen können, weil er glaubte, dass die Hoffnung der Menschheit alleine auf dem Sieg der kommunistischen Partei und der kommunistischen Idee in der ganzen Welt beruhte. Das war seine Grundvoraussetzung, für die er auch alles geopfert hat, was Moral bedeuten kann. Er hat Frantz Fanon, einen der großen Revolutionäre der Dritten Welt, begrüßt und enthusiastisch gefeiert, der eigentlich die Botschaft hatte, die weißen Kolonialisten müsste man alle ermorden, geradezu im [unverständlich] muss man eigentlich feststellen, dass sie nicht mehr da sind. Die Gewalt, das war die zweite ganz große Wasserscheide zwischen Sartre und Camus, die Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung. Das wollte Camus immer nur im allerletzten Moment, in der allerletzten Instanz eingesetzt wissen.

    Heinemann: Zwei Schlüsselbegriffe sind ja das Absurde und die Revolte. Revolte klingt nach Gewalt. Wie weit geht das bei Camus?

    Neudeck: Er hat sich zum Vorbild genommen die russischen Sozialrebellen, die man auch wieder Anarchisten nennen kann, die von Bakunin herkamen, die 1905 ein Attentat auf den Großfürsten planten. Und der entscheidende Mann, der Kaljajew, eine historische Figur, hat die Bombe nicht geworfen in die Kalesche des Großfürsten, weil dort überraschenderweise für die Planer des Aufstands und der Bombe zwei Kinder, zwei kleine Kinder saßen. Das ist in dem Stück von Camus, was bis heute unglaublich wichtig ist, was wahrscheinlich heute noch eine größere Aktualität hat bei dem großen Aufschwung, den Terrorismus in der ganzen Welt genommen hat, "Die Gerechten".

    Heinemann: "Les Justes".

    Neudeck: Das ist ein Stück, "Les Justes", was ich jüngst noch mal mit Klassen mehrerer Schulen in Mainz gesehen habe, und dabei ist mir deutlich geworden, das ist die ganz große Botschaft. Terroristen könnten Gewalt nur dann legitimieren, wenn sie sich selbst mit ihrem Leben in die Schanze schlagen und wenn sie die Ehre der Revolution retten, die darin besteht, dass man kleine Kinder, unbeteiligte Zivilisten niemals in die Gewalt der Bombe, die man irgendwo reinschmeißt, setzen kann.

    Heinemann: Camus – das haben wir schon festgestellt -, er war kein Parteigänger, trotz oder vielleicht auch wegen der frühen kommunistischen Gehversuche. Er hat die Nazis und den real-stalinistischen Sozialismus gleichermaßen bekämpft. War er im intellektuellen Klima im Paris der Nachkriegszeit, war er "Der Fremde"?

    Neudeck: Er war nicht nur der Fremde; er war in einer intellektuellen Quarantäne, wie das ein Beobachter jüngst gesagt hat. Er hat nicht auf die Geschichte und auf das Ziel der Geschichte gesetzt, was die Marxisten, die Kommunisten und die Weltbewegung des Kommunismus damals ausgemacht haben. Er war hinter dem Eisernen Vorhang, in der DDR beispielsweise, in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, ein sehr geachteter Untergrundautor, weil er nämlich die Revolte der deutschen Arbeiter auf der Stalin-Allee in Ostberlin damals zwei Tage nach dem 17. Juni gefeiert hat in einer großen Rede in der Mutualité in Paris und weil er die Revolte der Arbeiter und der Bürger in Ungarn gegen die Sowjetunion 1956 ebenso gefeiert hat und begrüßt hat. Er war in Osteuropa, in dem kommunistisch beherrschten und geschurigelten Osteuropa sehr, sehr bekannt und beliebt.

    Heinemann: Wobei wir hier über keinen Heiligen sprechen. Während seiner Ehe hielt er sich ständig Gespielinnen. Ein Lebemann, ein Dandy?

    Neudeck: Er war sicher kein Heiliger und es ist eine kleine Gefahr jetzt in dieser Zeit, in diesen Tagen, beim 100. Geburtstag, dass wir ihn zu einem solchen machen. Also bitte: er war jemand, der geradezu die Vielweiberei fast erfunden hat in Frankreich, wenn man das kurz sagen darf. – Nein, er war kein Heiliger. Er war es weder politisch, noch war er es in seinem privaten Leben.

    Heinemann: Was haben Sie von Camus gelernt?

    Neudeck: Wir – ich darf jetzt sagen wir, weil er hat mit der "Pest", mit dem Roman "Die Pest", eigentlich eine Charta der humanitären Arbeit geschrieben, weil jeder aus der "Pest" entnehmen kann, ohne dass er glauben muss, ohne dass er seine frömmsten Stunden in einer Kirche verbracht hat, kann man aus dieser Parabel der Pest in der nordafrikanischen Stadt Oran alles entnehmen. Es sind dort die drei großen Gestalten der humanitären Arbeit: der Arzt, der geradezu das Sinnbild der humanitären Arbeit ist, …

    Heinemann: Dr. Rieux.

    Neudeck: Dr. Rieux. Er weiß, es geht nicht um das Heil des Menschen, sondern es geht darum, ihm Schmerzen und Leiden zu lindern. – Dann gibt es den Journalisten, den windigen Burschen, wie ich gerne sagen würde, Rambert, der seine Reportage dort gemacht hat, aber dann abhauen will, weil das ist jetzt sein Auftrag, sein Mandat gewesen und er muss los, aber er schämt sich, weil er die Ärzte und die Assistenten, die Krankenpfleger an der Arbeit sieht.

    Und der Dritte ist auch ein windiger Bursche: es ist der Jesuit Paneloux. Der sagt in seiner ersten großen Predigt, während der Pesthauch über der Stadt liegt: Meine Brüder, ihr seid im Unglück, meine Brüder, ihr habt es verdient. Und das ist so die alte Theologie, mit der ganz gewiss der neue Papst Franziskus nicht mehr übereinstimmen würde, aber den hatten wir damals noch nicht, und er ist aber dabei, sich zu konvertieren praktisch zu der Front der Humanitären und diese Arbeit in Sanitätskomitees mitzumachen. Diese Botschaft der "Pest" ist eine der schönsten, der weitherzigsten und derer, die man für die Wirkung Camus eigentlich an allererster Stelle ansetzen müsste.

    Heinemann: Wo lauert die Pest heute?

    Neudeck: In allen Gebieten, in denen religiös verbrämter Terrorismus am Werke ist, und wir haben diesen religiös verbrämten Terrorismus, den wir zu Unrecht dem Islam in die Schuhe schieben, im ganzen Gürtel von Nordafrika. Ich bin eben zurückgekommen von Mauretanien, das Nachbarland Mali ist bedroht, der Niger ist bedroht, die Zentralafrikanische Republik ist bedroht, es gibt eine Bewegung, die von Saudi-Arabien aus gehalten wird, in Nigeria, Boko Haram, in Ägypten ist sie am Werke, überall sind Terroristen, die wahllos Bomben in die Menge schmeißen, auf die Zivilisten, von denen Camus uns immer wieder gesagt hat, wenn eine Befreiungsbewegung nicht in der Lage ist, die Zivilbevölkerung zu schonen, dann hat sie verloren, dann hat sie in den Worten Camus ihre Ehre verloren.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, der über Albert Camus promoviert hat, zum 100. Geburtstag heute. Danke schön für dieses Gespräch.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Der Schriftsteller, Philosoph, und Freidenker Albert Camus
    Der Schriftsteller, Philosoph, und Freidenker Albert Camus (picture alliance / dpa)