Johny Pitts: "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa"

Vom Glück der hybriden Nicht-Identität

05:48 Minuten
Von Jens Balzer · 22.10.2020
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Der britische Musiker Johny Pitts hat auf einer Reise nach einer „afropäischen“ Kultur in Europa gesucht. Er zeigt, dass sich diese nicht auf den Nenner einer schwarzen "Identität" bringen lässt, sondern deren Schönheit in der Mannigfaltigkeit liegt.
Eine "Reise durch das schwarze Europa" schildert der britische Musiker und TV-Journalist Johny Pitts in seinem ersten Buch "Afropäisch". Über einen Winter hinweg ist er mit Bahn, Bus und – selten – mit dem Flugzeug kreuz und quer über den Kontinent gereist: auf der Suche nach dem Leben und der Kultur schwarzer Menschen. Weil er wissen wollte, auf welche Weise "das Schwarzsein an der Gestaltung einer allgemeinen europäischen Identität beteiligt" ist.

Brüssel als "leicht verblühte Schönheit"

Seine Reise hat er genau geplant, aber die Menschen, mit denen er spricht, sind häufig Zufallsbekanntschaften. Auf seiner ersten Station, in Paris, trifft er schwarze Akademiker und Aktivistinnen, die gegen rassistische Diskriminierung mobilisieren; als nächstes reist er in eine entlegene Banlieue, in der ein arabischstämmiges Subproletariat in einem "Teufelskreis der Hoffnungslosigkeit" lebt.
In Brüssel freut sich Pitts über die "leicht verblühte" Schönheit der Stadt – und gräbt sich dann, gemeinsam mit Künstlern und Historikerinnen, tief in die entsetzliche kolonialistische Geschichte Belgiens ein, aus welcher der hier zu besichtigende Reichtum entspringt. Nach der Ankunft in Berlin gerät er unmittelbar in eine "antirassistische" Demonstration, deren Mitglieder alle weiß sind und in ihrem martialischen Auftreten kaum unterscheidbar von Rechtsextremisten.
Durch ein knappes Dutzend Städte kommt Pitts auf seiner Reise. Aber erst in Marseille findet er einen Ort, an dem er sich wohlfühlt, weil hier im entspannten Miteinander schwarzer Menschen unterschiedlichster Herkünfte jener utopische Zustand einer friedlichen Hybridität aufscheint, den er als "afropäisch" bezeichnet.

Pitts lässt sich immer wieder überraschen

"Afropäisch" ist ein glänzendes, unbedingt lesenswertes Buch. Geradezu gebannt folgt man den Reportagen von Pitts, gerade weil er sich selber immer wieder überraschen lässt und nicht weiß, was der nächste Ort, die nächste Begegnung ihm bringt.
Geschickt flicht er in die Schilderung seiner Reise historische Exkurse ein. Man lernt viel über den Kolonialismus, über die Befreiungskämpfe und die bis heute andauernden, endlosen Mühen der Dekolonialisierung. Vor allem aber lernt man viel über die Gegenwart der "afropäischen" Kultur – einer Kultur, die sich gerade nicht auf den Begriff einer schwarzen "Identität" bringen lässt, sondern deren Schönheit in der kulturellen Mannigfaltigkeit liegt, in der steten Bewegung und Transformation.

Aktuelle Verhärtungen der linken Identitätspolitik

Auch das wird aus diesem Buch mithin deutlich: dass die aktuellen Verhärtungen linker Identitätspolitik die Welt schlecht beschreiben und auch nichts nützen im Kampf gegen den weißen Rassismus, weil sie mit ihm die begrifflichen Muster und Schemata teilen. "Die afropäische Realität ist eine Bricolage des Schwarzseins", schreibt Johny Pitts am Ende seiner Reise. Und die glücklichsten Menschen, die er auf ihr trifft, sind jene, die ihren Frieden gemacht haben mit dem Hybriden und der Nicht-Identität.

Johny Pitts: "Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa"
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm
Suhrkamp, Berlin 2020
461 Seiten, 26 Euro

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