Liberalismus neu denken

Es gibt keine Freiheit ohne Gesellschaft

41:27 Minuten
Gruppe mehrfarbiger Bänder, die sich von einem einzigen Punkt aus gemeinsam in eine Richtung ausrollen.
Aus der Gemeinsamkeit heraus ist die Abgrenzung möglich. © Getty Images/ Moment RF
Christoph Möllers im Gespräch mit René Aguigah · 18.10.2020
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Bei Liberalismus denken wir oft an entfesselte Märkte und möglichst wenig Staat. Der Verfassungsrechtler Christoph Möllers dagegen versteht Freiheit als Produkt von politischen Entscheidungen – und plädiert für eine liberale Kapitalismuskritik.
Wenn Menschen gegen die Corona-Maßnahmen protestieren, weil sie sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen, stößt das oft auf Unverständnis: Die paar Einschränkungen könne man ja wohl mal eine Weile aushalten.
Der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers hingegen findet das Gefühl der Beschränkung erst einmal nachvollziehbar: "Die Corona-Maßnahmen sind natürlich auch erst einmal Maßnahmen gegen unsere Bewegungsfreiheit, auch die Freiheit, anderen nahezukommen, und dass man da eine Intuition massiver Unfreiheit hat, auch wenn man über die nochmal nachdenken muss in einem zweiten Gang, das ist wirklich einleuchtend."

Freiheit ist nichts Naturwüchsiges

Ein solches "Nochmal Nachdenken" unternimmt auch das neue Buch von Christoph Möllers: "Freiheitsgrade", so der Titel, sei der Versuch sich auf den schillernden Begriff des Liberalismus einen "eigenen Reim" zu machen, jenseits verbreiteter Klischees, erzählt Möllers. Seine wichtigste These: Die Freiheit der Einzelnen sei nichts "Naturwüchsiges", sie lasse sich nie losgelöst von der sie umgebenden Gesellschaft betrachten – denn die sei immer schon da und bedinge, so oder so, die individuellen Freiheitsspielräume. Individuelle und kollektive Freiheit gehörten zusammen.
Christoph Möllers, im Anzug und mit Brille, lächelt in die Kamera.
Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.© Christoph Möllers
Daraus folgt für ihn, "dass wir natürlich individuelle Freiheit schützen müssen, aber uns immer klarmachen müssen, dass das, was da geschützt wird, und das Individuum, das sich auf diese Freiheit beruft, ein Produkt der Gemeinschaft ist. Dass da die Politik schon am Werk ist, in dem Moment, wo wir uns auf unsere Individualität berufen."
Bezogen auf die Corona-Proteste heißt das auch: So richtig die Intuition der Freiheitsbeschränkung sein mag, so falsch ist es, die so individuellen Freiheiten absolut zu setzen – und ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen auszublenden, die solche Eingriffe unter Umständen rechtfertigen.

Liberale Kapitalismuskritik

In ähnlicher Weise blickt Möllers auf die zentrale liberale Kategorie des Eigentums: Zwar sei Ungleichheit (oder Diversität) für Liberale erst einmal etwas Positives und Privateigentum eine notwendige Bedingung von Freiheit. Allerdings müsse man sich auch klar sein, "dass alles Privateigentum erstmal über die Gemeinschaft vermittelt ist: Das Produkt einer Gemeinschaft, die es so und nicht anders zuordnet". Daraus folge, dass es immer auch anders zugeordnet werden kann.
Für Liberale sei das Kriterium dieser Zuordnung und die Rechtfertigung von Ungleichheit der Verdienst, "dass man irgendwas selber macht oder kann". Aber wenn man den ernst nehme, würde das aus Möllers Sicht "eher mehr staatliche Interventionen als weniger" erfordern: "Dann muss man sagen: Chancengleichheit heißt zum Beispiel starke Erbschaftsbesteuerung." In diesem Sinne plädiert Möllers dafür, eine "liberale Kapitalismuskritik" zu entwickeln, die sich durchaus auf historische Vorläufer berufen könne.

Politik braucht Alternativen

Möllers Perspektive ist dabei eine dezidiert links- oder "sozialliberale", wie er selbst betont. Von einer Verpflichtung des Liberalismus auf die "Mitte" hält er wenig – sondern sieht darin eine tendenziell gefährliche "Depolitisierung". Der Anspruch, über der Politik zu stehen, weder rechts noch links zu sein, das sei bloß ein alter "Trick" des Liberalismus. Möllers besteht stattdessen darauf, dass es Liberalismus "heute nur als Rechts- oder Linksliberalismus geben kann – und dass das auch in Ordnung ist". Denn für den politischen Prozess sei es unabdingbar, Alternativen bilden zu können: "Man kann auch andere Unterscheidungen anbieten, aber es ist klar, dass wir etwas brauchen, dass sich nicht als Mitte jenseits von politischer Willensbildung setzt."
Mit gängigen Vorurteilen von entfesselten Märkten hat diese Neubestimmung des Liberalismus ganz sicher wenig zu tun. Stattdessen erinnert Christoph Möllers an die heute mitunter vergessenen vielfältigen Traditionen des Liberalismus, jenseits reiner Marktgläubigkeit. Und die Tragfähigkeit seines Konzepts überprüft er auch an den sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft.
(ch)

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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