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"Carfree-Day"
Autofreie Hauptstraße in Jakarta

Die Sudirman-Straße in Indonesiens Hauptstadt Jakarta ist eine Verkehrshölle. Doch seit zehn Jahren ist jeden Sonntagvormittag alles anders: Am Carfree-Day gehört die wichtige Nord-Süd-Verbindung Fußgängern und Freizeitsportlern.

Von Stefan May | 20.09.2015
    Ungewohntes Bild: Die Sudirman-Straße in Jakarta am autofreien Tag im August 2015.
    Ungewohntes Bild: Die Sudirman-Straße in Jakarta am autofreien Tag im August 2015. (picture-alliance / dpa / Mast Irham)
    So klingt Jakartas Hauptverkehrsstraße Jalan Sudirman jeden Tag. Eine regelmäßig verstopfte Verkehrsader mit vier Fahrspuren in jeder Fahrtrichtung, von modernen Büro-Hochhäusern gesäumt. In der Mitte bahnt sich der Schnellbus Transjakarta auf eigener Trasse seinen Weg, am Rand drängeln sich Mopeds und Motorräder im dichten Knäuel, dazwischen schieben sich Autos und Kleinbusse zäh dahin.
    Und so klingt Jalan Sudirman, die Hauptstraße von Indonesiens Hauptstadt, jeden Sonntag-Vormittag. Es ist kurz nach sechs Uhr früh, die Sonne ist gerade aufgegangen, doch die ganze Stadt scheint schon auf den Beinen zu sein. Lediglich die gewohnte Geräuschkulisse fehlt: Wo es normalerweise brummt und hupt, krähen Kinder, wummern Lautsprecher, klingeln Fahrradglocken - nur in der Mitte der Straße fährt unverändert der Transjakarta, diesmal ausnahmsweise nach Fahrplan, flott und unbehindert. Wie jeden Sonntag zwischen Sonnenaufgang und elf Uhr Vormittag wird auf Jakartas wichtigster Straße der Carfree-Day gefeiert. Jalan Sudirman gehört dann für einige Stunden allen außer den Autos und Mopeds. Familien schlendern über das breite Asphaltband, Sportlergruppen in einheitlich grellbunten Dressen schlängeln sich auf Fahrrädern dazwischen durch. Skater sind ebenso unterwegs wie Läufer. Yanuar Budiarso, Leiter einer Sprachschule, und seine Familie lassen sich etwa zweimal im Monat durch die kilometerlange Menge treiben.
    "Wenig Luftverschmutzung, wir können uns frei fühlen beim Gehen. Es gibt keine Abgase, es ist gemütlich."
    Die Sonne scheint klar. Für einige Stunden kann sich das Klima im Zentrum der indonesischen Hauptstadt erholen. Es ist ein Fest für Jung und Alt, vom Knirps auf dem Rad mit Stützrädern, bis zur Oma im Rollstuhl, die einmal gefahrlos und ohne technische Probleme etwas von ihrer Stadt sehen kann. Niemand trägt heute eine Maske vor Mund und Nase, wie es sonst vielfach praktiziert wird. Die Menschen genießen es, ihre Freizeit auf unüblichem Terrain zu verbringen. Wer nicht Sport betreibt, entdeckt die teils verwegene Architektur der Hochhäuser an der Straße für sich neu und den blauen Himmel darüber oder erfreut sich an den Attraktionen, die alle paar Meter auftauchen. Gerade wanken zwei überlebensgroße Figuren heran:
    "Sie werden Oner/Oner genannt, typische Puppen aus Jakarta. Sie kommen oft, wenn es Hochzeitszeremonien daheim gibt. Dann kann man sie einladen, und sie nehmen an dem Ereignis teil."
    Für Ortsfremde ist der Sonntagvormittag eine gute Gelegenheit ungeschminktes Indonesien zu erleben, ohne Tourismus-Sterilität: muslimische Mädchen mit Kopftuch, in Trainingsanzug und Badeschlappen, aber auch ärmliche Händler mit winziger Ware zum kleinen Preis. Geduldig hocken sie am Rand der breiten Asphaltschneise durch die Skyline der City im Schatten mächtiger Palmen und sehen dem Treiben wie einem Film zu. Unter ihnen sitzt ein Meister des Scherenschnitts am Straßenrand auf einem Hocker und hält ein paar Stücke schwarzen Kartons in der Hand. Yanuars Sohn darf vor ihm Platz nehmen, und schon beginnt der Künstler dessen Kopf-Profil aus dem Karton zu schneiden: Exakt modelliert er Lippen, Wimpern und Haarlocke, hält prüfend den Karton in Richtung des Jungenkopfes, schneidet weiter, macht sachte Korrekturen, prüft neuerlich mit raschen Blicken. Wie auf einer Tafel vor dem Straßenkünstler angekündigt ist das Profil nach weniger als fünf Minuten fertig. Unverkennbar: Yanuars kleiner Sohn. Mobile Eisverkäufer ziehen vorbei, von deren Wägelchen stets dieselbe monotone Erkennungsmelodie erklingt.
    Eine Gruppe Jugendlicher trabt mit himmelblauen Luftballons daher. Auf Jalan Sudirman herrscht Volksfeststimmung. Auf Plastikhockern sitzen sich junge Leute gegenüber und lernen die Gebärdensprache. Ein Stück weiter bietet ein Händler aus Säcken und Kartons Frühstück to go an.
    "Das ist typisch indonesisches Essen. Das ist aus Bohnen gemacht, das aus Bananen. Das ist Obi Obi, Süßkartoffel. Bananenblätter, aber drinnen ist Reis mit Zucker."
    Frau Budiarso ersteht ein paar Pflanzen für daheim von einem fliegenden Händler. Manchmal gehen die drei auch noch ein Stück weiter Richtung Norden, denn da kann man gratis an Gymnastikübungen teilnehmen, die ein Trainer leitet, erzählt Yanuar. Vor dem Polizeiquartier am Kreisverkehr hat eine kleine Musikkapelle Aufstellung genommen. Selbst die Polizisten sind heute auf Rollerblades unterwegs und machen ein wenig Werbung für sich als Freund und Helfer. Ein Stück weiter trippeln im Schatten der Bäume am Straßenrand längliche pelzige Tiere kreuz- und quer, die aussehen wie eine Mischung aus Marder und Iltis. Manche sind angeleint oder tragen ein Glöckchen um den Hals. Den Scharen der Vorbeikommenden sind sie ein willkommenes Fotoobjekt: Handykameras nehmen sie aus allen Perspektiven ins Visier. Diese sonderbaren Haustiere sind Musangs, Schleichkatzen, die nur auf drei Inseln Indonesiens vorkommen. Heute ist der Verein der Freunde des Musang hier, ein anderes Mal treffen sich an dieser Stelle Halter von Reptilien. Unweit von ihnen steht an der Einmündung einer Seitenstraße das Informationszelt des Organisators, der Carfree-Day-Initiative. Vor genau zehn Jahren hat es damit in Indonesiens Hauptstadt begonnen, sagt Mitorganisator Ivan.
    "Unser Hauptziel ist es, den CO2-Ausstoß zu verringern und den Bürgern hier Freude und gesunde Freizeit zu vermitteln. Zuerst war es eine private Initiative, aber die Regierung unterstützt uns. Der meiste Andrang herrscht zwischen 7 und 9 Uhr."
    Derzeit läuft die Veranstaltung zwischen 6 und 11 Uhr, danach wird es zum Radfahren, Joggen und Inline-Skaten einfach zu heiß. Dennoch streben die Veranstalter eine Ausweitung der Verkehrssperre des Jalan Sudirman bis Mitternacht an, sodass der Carfree-Day seinem Namen auch wirklich gerecht werden könnte. Etwa acht weitere Städte in Indonesien haben ebenfalls einen Carfree-Day in ihren Innenstädten eingeführt. Und erst kürzlich war der Bürgermeister von Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur zu Gast in der Hauptstadt des Nachbarlands, um sich über die Erfahrungen damit zu informieren, erzählt Ivan.
    "15.000 Menschen kommen jede Woche hierher, heute mögen es 20.000 sein, die Zahl der Besucher wächst ständig."
    Doch da hat sich noch eine Musikband mitten auf der Fahrbahn aufgestellt und musiziert drauflos. Es ist ein fröhlicher Tag, und trotz der vielen Menschen ging es entspannt und friedlich zu. Sie alle wollen ein Stück lebenswerte Stadt erzwingen, und sei es auch nur für wenige Momente am Sonntagvormittag.