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Carlos Zanón: "Die Hälfte von allem"
Sozialkritisch, originell, spannend

Der sogenannte schwarze Roman, der immer sozialkritisch war, hat in Spanien Tradition. Carlos Zanón führt mit "Die Hälfte von allem" diese Tradition fort. Sein Roman spielt vor dem Hintergrund der europäischen Finanzmarktkrise und erzählt von den Opfern derselben. Eine Geschichte spannend bis zur letzten Seite.

Von Eva Karnofsky | 30.07.2015
    Dass er mit "Die Hälfte von Allem" einen sogenannten schwarzen Roman geschrieben hat, erfuhr Carlos Zanón erst ein Jahr nach Erscheinen des Buches, als ihm auf dem Festival des schwarzen Romans von Valencia der Preis für den besten Roman des Genres zuerkannt wurde. Einen Kommissar oder eine Verbrecherjagd sucht man denn auch vergebens in Zanóns Werk. Zanón geht es vielmehr um Menschen, die in seiner Heimatstadt Barcelona zu überleben versuchen und die nicht zu den Reichen und Schönen zählen, sondern zu den Verlierern der Gesellschaft. Der Autor führt in ein Barcelona, das sich vor den Touristen gewöhnlich verbirgt: Seine Protagonisten Bruno, Raquel und deren Stiefbruder Cristian bewegen sich in den Armenvierteln der Stadt. Sie sind obdachlos und leben auf der Straße. Ein allwissender Erzähler berichtet in der dritten Person aus ihrer Sicht, im folgenden Zitat aus der Perspektive von Bruno:
    "Raquel und er sind jetzt seit zwei Jahren zusammen. Sie hat drei Kinder aus ihrer Ehe, zwei Jungs, der eine 28, der andere 20, und ein Mädchen, gerade mal 14. Raquel selbst geht auf die 50 zu. Als sie geheiratet hat, war sie schwanger und verliebt, aber die Drogen haben alles ruiniert. Jedenfalls hat sie es so dargestellt. Getroffen hat er sie, als sie gerade eine schlechte Phase hatte und vor Geldautomaten schlief. Damals hatte sie sich bereits mit ihrem Stiefbruder Cristian zusammengetan, noch so einer verlorenen Seele."
    In ihrer Not haben Bruno, Cristian und Raquel eine lukrative Geschäftsidee entwickelt: Sie fotografieren Paare, die aus Stundenhotels kommen, notieren deren Autonummern und machen über einen korrupten Beamten die Namen der Besitzer ausfindig. Dann drohen sie den Paaren damit, ihre Ehepartner darüber zu informieren, dass sie fremdgehen. Fast alle Opfer zahlen für das Schweigen der Erpresser. Auf diese Weise stoßen die drei Gauner auch auf den geschiedenen Versicherungsvertreter Max, der ein Verhältnis mit der verheirateten Merche hat. Der Erzähler folgt kapitelweise alternierend mal dem Gauner-Trio und mal Max und seiner Geliebten Merche, wobei er umgangssprachlich daher kommt, wenn er von den drei Gaunern berichtet und in gehobener Diktion, wenn er mit Max und Merche begleitet, die aus der Mittelschicht stammen.
    Während es Bruno, Raquel und Cristian Dank ihrer Einkünfte aus den Erpressungen bald finanziell etwas besser geht, sodass sie sich eine bescheidene kleine Wohnung mieten können, geht es mit Max bergab, nicht nur in Folge seiner Scheidung.
    "Seit zehn Jahren arbeitet er in einer Versicherungsagentur, betreut dort seinen eigenen Kundenstamm, der in den vergangenen Monaten ziemlich geschrumpft ist. Sein Kundenstamm und auch der seiner Kollegen. Die Krise. Wie alles - Gutes und Schlechtes - wird auch diese Krise vorbeigehen. Außerdem ist eine Krise wie geschaffen für Leute mit Mumm, die etwas riskieren wollen, hoch pokern, um so richtig abzuräumen. Hat er sich zumindest schon so oft gesagt, sodass er fast selber dran glaubt."
    Umstände zwingen Menschen in die Kriminalität
    Er verdient aber weniger als zuvor, das Geld reicht nur noch für das Nötigste. Umso härter trifft ihn die Geldforderung der Erpresser. Sein Abstieg aus der Mittelschicht, die Geld für Bücher, Theaterkarten oder Kinobesuche hat, ist vorprogrammiert. Die europäische Finanzmarktkrise ist die Kulisse, vor der sich die Protagonisten des Romans bewegen. Ganz besonders hart von der Krise getroffen wird allerdings Raquel. Sie braucht eine neue Leber, doch im öffentlichen Gesundheitswesen wird gespart, und so ist die Warteliste für Operationen so lang, dass sie womöglich sterben wird, bevor sie an der Reihe ist.
    Auf der Suche nach Bruno kommt Cristian eines Tages in eine der Volksküchen von Barcelona, die nun nicht mehr wie früher nur von Zwangsgeräumten, Einwanderern oder Einsamen frequentiert werden:
    "Er hat viele gesehen, die gerade noch auf der anderen Seite gewesen sind. Familien, in denen keiner mehr einen Job oder Hoffnung hat, die Gesichter machen, als würden sie nicht begreifen, was mit ihnen geschehen ist und wo die, die sie mal waren, plötzlich abgeblieben sind. Familien, die ihre Wohnung verloren haben, weil sie die Raten nicht mehr zahlen konnten. Menschen, die sich plötzlich unter den Pöbel mischen müssen. ... Cristian versteht die Leute nicht. Warum wetzen sie nicht die Messer und marschieren in die höher gelegenen Viertel der Stadt? Warum stürmen sie nicht das Parlament, die Banken, die großen Unternehmen, die Fernsehstudios, die Fußballstadien und stechen alle ab?"
    Das Zitat belegt es: Carlos Zanón steht in der Tradition des schwarzen spanischen Romans eines Manuel Vázquez Montalban oder Juan Madrid, der immer sozialkritisch war und sich auf die Seite der Schwachen schlug. Allerdings geht es Zanón nicht darum, Verbrechen aufzuklären. Vielmehr zeigt er, wie die Umstände Menschen dazu bringen können, zum Verbrecher zu werden. Der finanzielle Niedergang treibt schließlich auch Max in die Kriminalität. Er beginnt, Versicherungsprämien seiner Kunden in die eigene Tasche zu wirtschaften.
    Doch nicht nur die Krise macht Max zu schaffen, sondern auch die Tatsache, dass er sich von seiner Frau getrennt hat, Merche aber trotzdem bei ihrem Mann bleibt. Sie liebt Max nicht mehr, verschweigt ihm dies jedoch.
    "Fühlt sich das, was einmal als Abenteuer begonnen hat, inzwischen nicht genauso monoton an wie eine Ehe? Sie ergreift schon lange nicht mehr die Initiative, fühlt sich schon lange nicht mehr wie im Rausch, aber ihr Geliebter gibt sich mit so wenig zufrieden, wie ein Hund, den man prügeln kann so viel man will und dann nur einmal streicheln muss, und schon liebt er sein Herrchen wieder bedingungslos. ... Indem sie beide hat, Max und ihren Mann, fühlt sie sich begehrt, gebraucht."
    Bis zum Schluss spannend
    Max, der unter seiner Einsamkeit leidet, will Merche dazu zwingen, ihren Mann zu verlassen und plant deshalb das nächste Verbrechen, bei dem Cristian, sein Erpresser, ihm helfen soll. Darüber soll hier jedoch nichts verraten werden.
    Carlos Zanón zeichnet seine Figuren sehr vielschichtig. Mal empfindet man Mitleid mit ihnen, gelegentlich sogar Sympathie, dann wieder kann man sie nur ablehnen. Man hasst Bruno, wenn er Raquel aus Eifersucht schlägt, doch man begegnet ihm mit einem gewissen Wohlwollen, wenn er seine schwerkranke Frau dann aufopfernd pflegt. Weil Zanón den Leser an ihren Entscheidungsprozessen teilhaben lässt, bringt er fast immer ein gewisses Verständnis für ihr Handeln auf, auch wenn sie anderen Schaden zufügen oder in die Kriminalität flüchten. Obwohl man Max und Merche und das Gauner-Trio nicht wirklich mag - man möchte doch wissen, was aus ihnen wird, und so bleibt der Roman bis zum Schluss spannend. Carlos Zanóns Roman "Die Hälfte von allem" ist ein Beleg dafür, dass sich sogenannte schwarze Romane aus Spanien wie zu Lebzeiten Vázquez Montalbans ihren kritischen Blick auf all das bewahrt haben, was schief läuft in der Gesellschaft. Und an Originalität und Nervenkitzel mangelt es auch nicht.
    Carlos Zanón: Die Hälfte von allem.
    Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
    Nagel & Kimche Verlag,
    München 2014, 331 Seiten, EUR 19,90.