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"Carol" von Todd Haynes
Frauenpower in Cannes

Der Film "Carol" von Todd Haynes ist der Favorit in Cannes auf die goldene Palme. Es ist eine lesbische Liebesgeschichte mit Cate Blanchett in der Titelrolle und spielt in den 50er-Jahren. Das Thema Frauen und Film bewegt die Gemüter in der Stadt an der Côte d’Azur weiter.

Von Josef Schnelle | 20.05.2015
    In der hier täglich erscheinenden Business-Illustrierten "Screen" voller Werbung und voreiliger Ankündigungen von Dreharbeiten und Deals gibt es hinten auf der letzten Seite eine Bewertungsübersicht, zu der Filmkritiker aus aller Welt beitragen. Einsam thront dort mit einem Durchschnittswert von 3,5 von 4 Punkten "Carol" von Todd Haynes. Das ist also der Favorit auf die goldene Palme, und das sehr zu Recht. Es ist eine lesbische Liebesgeschichte, die in den 50er-Jahren spielt. Die elegante und wohlhabende Carol muss, weil sie Frauen liebt, fürchten, entdeckt zu werden. So hat der Flirt mit einer Verkäuferin im Warenhaus vielleicht schwerwiegende Folgen.
    "Was machen Sie an Sonntagen?" - "Nichts Spezielles. Was machen Sie?" - "Eigentlich überhaupt nichts. Sie könnten mich irgendwann besuchen kommen. Es ist schön da, wo ich lebe. Würden Sie gerne diesen Sonntag kommen?" - "Ja."
    Todd Haynes erzählt nach Patricia Highsmith's Roman "Salz und sein Preis", in dem sie sich 1952 zunächst unter Pseudonym outete, die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe, eine Geschichte - so der klassische Hollywoodterminus "Größer als das Leben selbst". Darauf ist der stilbewusste Romantiker des amerikanischen Autorenkinos sowieso abonniert.
    Die Australierin Cate Blanchett beherrscht diesen Film in der Titelrolle wie eine Königin. Ihre Blicke sprechen. Ihre Gesten, wenn sie mit der jüngeren Verkäuferin auf eine Fluchtreise in die Anonymität geht, kündigen schon an, was geschehen wird. Ein schöner, vielschichtiger, dabei eleganter und aufregender Film, mit dem die Produktionsfirma zumindest für Cate Blanchett schon die kommende Oscar-Saison anpeilt und vielleicht eine Palme in Cannes. Dort bewegt das Thema "Frauen und Film" noch immer derart die Gemüter, dass den Journalisten im Saal der Pressekonferenz sofort auffiel, dass außer dem Regisseur Todd Haynes, fast nur Frauen das Podium bevölkerten: nicht nur Schauspielerinnen, auch Produzentinnen. Cate Blanchett auf die Frage, ob dieses das Jahr der Frauen in Cannes sei:
    "Wir wollen doch hoffen, dass es nicht das Jahr ist, ein modischer Moment, der wieder vergeht. Je reicher und diverser die Filme sind, umso mehr erreichen sie Männer und Frauen. Schön an dieser Geschichte ist - und das ist bei Patricia Highsmith generell der Fall -, dass wir die Männer- und die Frauenperspektive haben und zwar vermischt und aufgelöst. Und so ist das keine Nischenerfahrung."
    Abseits dieses unbestrittenen Großereignisses - manche sprechen sogar schon jetzt von einem Meisterwerk - quält sich der Wettbewerb über die Runden. (Der Film "Louder than Bombs" des Norwegers Joachim Trier ist ein solides Drama über eine Familie - zwei Söhne und einen Ehemann -, die den Tod der als Kriegsreporterin engagierten Mutter - jeder auf seine Weise - verkraften müssen. Außerdem setzte der Franzose Stéphane Brize dem unbekannten arbeitslosen Helden in seinem Film "Das Gesetz des Marktes" ein Denkmal.)Eine ganz unerwartete Bereicherung erfuhr das Festival darüber hinaus durch einen der sogenannten Mitternachtsfilme, die - natürlich außer Konkurrenz - das reine Vergnügen ins Festivalprogramm bringen sollen. "Inside Out" von Peter Docter aus der Walt Disney/Pixar-Fabrik wagt einen intelligenten, vergnügten Blick in die Köpfe der Menschen. Was geht da vor, während wir außen die üblichen Fragen stellen? Und natürlich gibt's den Trailer schon auf Deutsch:
    "Na wie war der erste Tag in der Schule?" - "Ich glaube er war ganz OK, weiß nicht." - "Seht ihr manchmal jemand an und fragt euch, was geht wohl in seinem Kopf vor?" - "Mädels habt ihr das mitgekriegt?" - "Ja, klar doch. Irgendwas stimmt nicht. Wir gehen der Sache mal auf den Grund. Aber wir brauchen Unterstützung. Signal an den Mann." - "Sie sieht uns an. Was hat sie gesagt?" - "Sorry, Sir, niemand hat zugehört." - "Muss der Müll noch raus. War die Klobrille noch oben. Was willst Du, Frau. Was?" - "Gib ihm noch ein Signal."
    Im Kopf der 11-jährigen Riley sitzen in diesem Zeichentrickfilm die personalisierten Gefühle Freude, Angst, Trauer, Wut und Abscheu. Sie befinden sich in einem futuristischen Kontrollraum und drücken die Knöpfe, aus denen sich die Emotionen zusammensetzen. Ein witziger Diskurs über die menschliche Psyche. Später wird ein neuer Schalter eingebaut. Er heißt: Pubertät. Möglicherweise hat er gar nichts zu bedeuten, sagt einer.