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Carys Davies: "West"
Nach Westen – und zurück

Im frühen 19. Jahrhundert lässt ein Siedler in Pennsylvania alles zurück und zieht nach Westen. Doch er hat vor zurückzukommen, sobald er ein Tier mit Riesenknochen gefunden hat, das dort leben soll. Ein ungewöhnlicher Western. Carys Davies verbindet das Genre in ihrem Debüt mit dem modernen Bewusstseinsroman.

Von Tanya Lieske | 01.07.2019
Zu sehen ist die Autorin Carys Davies und das Cover ihres Romans "West".
Kurzgeschichten haben der walisischen Autorin Carys Davies in der angelsächsischen Welt bereits viel Aufmerksamkeit beschert. (Autorenfoto: Jonathan Bean/ Cover: Luchterhand Literaturverlag)
Der Titel dieses Romans, West, benennt eine Himmelsrichtung. Zugleich zitiert er ein ganzes Genre herbei. Und damit einen Fundus an Bildern, der sich bei der Leserin einstellt, noch bevor sie die erste Seite aufgeschlagen hat. Da ist ein weiter Himmel, da sind Planwagen, die ihre Spuren in der Prärie hinterlassen, es gibt verloschene Indianderfeuer und Blockhütten, vor denen weiße Wäsche flattert, natürlich. Der klassische Western ist das Genre der Landnahme und der weißen Besiedlung Amerikas, genauer: Er erzählt, welche Bilder unser kollektives Gedächtnis davon bewahren will. Die walisische Autorin Carys Davies setzt diese Bilder voraus. Sie zitiert sie, sie deutet um und sie dekonstruiert. Das gelingt ihr schon in den ersten Zeilen ihres Romans.
"Wie es aussah, würde er zwei Gewehre, ein Beil, ein Messer, die eingerollte Decke, die große Blechkiste, verschiedene Taschen und zusammengeschnürte Bündel mitnehmen.
'Wie weit musst du reiten?'
'Kommt darauf an.'
'Tausend Meilen? Mehr als tausend Meilen?'
'Ja, Bess, wahrscheinlich mehr als tausend Meilen.'
Bellmans Tochter zupfte einen losen Faden von der Decke, die bis zu diesem Morgen auf seinem Bett gelegen hatte. Sie sah zu ihm auf. 'Und dann dieselbe Strecke wieder zurück?'"
Dekonstruktion klassischer Genrebilder
Der klassische Western verläuft one way: Siedler reitet nach Westen, er arrangiert sich mit den Indianern oder tötet sie, und er bleibt. Jemand, der zurückkehren will, hat etwas anderes im Sinn. John Cyrus Bellman heißt der Mann, der sich auf den Weg macht. Er ist noch nicht vierzig Jahre alt, kommt aus England, lebt von der Maultierzucht. Er ist Witwer, hat eine kluge zehnjährige Tochter namens Bess und eine weniger kluge, dafür puritanisch strenge Schwester namens Julie. Mit dem Nachbarn Elmer Jackson ist das winzige Anwesen komplett. Später erfährt man, dass es in dem entfernt liegenden Ort eine Kirche gibt, eine Bücherei und ein Geschäft. Der Fußweg beträgt anderthalb Stunden. Dann ist man in der Stadt Lewistown in Pennsylvania. Hier ist das Leben im frühen 19. Jahrhundert sozial normiert, arbeitsam und streng protestantisch. Carys Davies erklärt das nicht, sie evoziert es mit einigen wenigen Gegenständen, die den schmalen Besitz ihrer Figuren illustrieren. Hier beschreibt John Cyrus am Abend vor seiner Abreise die geplante Route:
"'Elmer, stell dir vor, das Gurkenglas wäre mein Haus, hier in Pennsylvania.' Er stellte das Glas an die rechte Tischkante. 'Und hier - wenn ich bitte kurz deinen Kaffeebecher haben dürfte - ist St. Louis.' Er stellte Jacksons Becher links neben das Gurkenglas. 'Und von hier' - er tippte auf das Glas - 'bis nach St. Louis' - er tippte auf den Becher - 'sind es ungefähr achthundert Meilen.' Elmer Jackson nickte. 'Und ganz da hinten' - Jacksons trüber Blick folgte Bellmans Hand, die den neuen Zylinder an die linke Tischkante schob - 'sind die Stony Mountains, auch Rocky Mountains genannt.
'Und hinter dem Zylinder?'
'Hinter dem Zylinder, Elmer, geht es abwärts bis an den Pazifik, aber so weit muss ich hoffentlich nicht.'
Bellmanns Windmühlen haben Riesenknochen
John Cyrus Bellman folgt einem Traum. Ein Zeitungsartikel hat ihn bewogen, nach Westen zu gehen. Darin ist die Rede von einem enormen Knochenfund, es waren haushohe Tiere mit Stoßzähnen. Bellmann glaubt, dass diese Tiere noch leben, und er will sie sehen. Als erster und allein. Die Absurdität des Vorhabens wird nur noch übertroffen von der ihm innewohnenden Poesie. Die Riesenknochen dieser Tieres sind für Bellman das, was für Don Qichote die Windmühlen waren. Seine Illusion ist so erhaben wie komisch, und sie trägt viel zur Fallhöhe dieser Figur bei. Mit ihrer präzise austarierten Sprache, bei der kein Wort am falschen Platz ist, beschreibt Carys Davies hier den schmalen Grat zwischen Traum und Wirklichkeit. Ein winziger stilistischer Lapsus, ein einziges fehlgesetztes Adjektiv, und John Cyrus Bellman wäre eine lächerliche Figur. Aber Carys Davies schafft es, die elegante Balance zwischen Komik und Tragik zu halten.
"Der Mann, er hieß Devereux, zog belustigt die dunklen Augenbrauen zusammen. 'Ach wirklich?', fragte er lächelnd.
'Jawohl Sir', sagte Bellman. 'Ich halte das für möglich.' Devereux konnte nicht anders, er musste lachen. Er schüttelte gackernd den Kopf und erklärte, er handele in dieser Gegend seit neunundzwanzig Jahren mit Pelzen, aber in der ganzen Zeit habe er kein Tier gesehen, das größer gewesen wäre als ein Büffel.
Unabhängige junge Denkerin Bess
Der Pelzhändler Devereux ist nicht allein mit seinem Spott. Bellmans Schwester Julie, die Leute auf der Straße und in der Kirche, die Inhaberin des Hutgeschäfts - sie alle wissen, dass Bellman scheitern wird, und sie machen aus ihrem Wissen keinen Hehl. Einzig Bellmans Tochter Bess glaubt bis zum Ende an ihren Vater. Dahinter steht mehr als Elternliebe. In Bess, die zum Ende des Romans 12 Jahre alt sein wird, schimmert eine unabhängige Denkerin auf. Sie hat das Potential, sich aufzulehnen gegen die soziale Enge und die protestantisch geprägte Normierung ihrer Umwelt. Carys Davies gelingt eine sorgfältig konturierte, und eine anrührende Figur im Niemandsland zwischen Kindheit und Pubertät.
"Heute war eine Krähe in den Hof geflattert, das bedeutete, dass ihr Vater die großen Tiere gefunden hatte und auf dem Rückweg war. Wenn sie es morgen schaffte, den Eimer von der Pumpe ins Haus zu tragen, ohne einen einzigen Tropfen zu vergießen, bedeutete es, dass er bei guter Gesundheit war. Dieselbe Bedeutung hatte es, wenn der Weißdorn noch im April zu blühen anfing."
Erzählungen prägen Bewusstsein aller Figuren
Derweil reitet Bellman durch die Wildnis. Alle Personen, die er unterwegs trifft, illustrieren und zitieren den Mythos des Westerns. Das gilt für den hartgesottenen Trapper Devereux genau so wie für einen Indianerjungen, der Bellman später begleiten wird. Der Junge ist 17 Jahre alt, sein Stamm ist von den Siedlern vertrieben worden und stark dezimiert nach Westen gezogen. Wie eine Schraffur wird in seinen Erinnerungen die blutige Besiedlung Nordamerikas deutlich. Sie ist die eigentliche Urerzählung des Landes, die das Bewusstsein aller Figuren prägt, ob sie es nun wissen oder nicht. Dabei entstehen widersprüchliche Geschichten, die sich schlussendlich zu einer neuen Textur überlagern. Und in diesem einen Punkt wird John Cyrus Bellman am Ende doch recht behalten.
"Obwohl er wusste, dass der Junge ihn nicht verstehen konnte, erklärte er ihm, er selbst sei ja immer eher ein Denker gewesen, kein Krieger, und dann lachte er leise über seinen eigenen Witz. Zusammenhanglose Gedanken schwebten und strömten durch sein Gehirn. Einmal sagte er, es müsse wohl ein Muster hinter den Dingen geben, doch leider könne er es nicht erkennen."
Für die Leserinnen und Leser dieses gelungenen Debütromans wird das Muster aber deutlich werden. John Cyrus Bellmans mittlerweile 12jährige Tochter Bess braucht dringend Hilfe. Sie braucht sie, weil ihr Vater sie verlassen hat, und sie wird sie bekommen, weil der Indianerjunge an seiner Stelle zurückkehrt. Carys Davies gelingt hier ein furioses Finale, in dem noch einmal die erzählerische Bravour und Kühnheit dieses schmalen Romans noch einmal aufleuchten. Bravo.
Carys Davies: "West"
Aus dem Englischen von Eva Bonné. Luchterhand Literaturverlag, München, 208 Seiten 20 Euro