Freitag, 19. April 2024

Archiv

"Casablanca"
Ein zeitloser Film der Zeitbezüge

Irgendwo zwischen Propaganda-Auftrag und Kassenschlager: "Casablanca" als Kultfilm und als historisches Ereignis. 75 Jahre nach der Premiere sind die Szenen um "Rick's Café" immer noch faszinierend. Doch nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen ihrer Produktionsgeschichte, wie Buchautor Norbert Pötzl im Dlf erklärt.

Norbert Pötzl im Gespräch mit Birgid Becker | 26.12.2017
    Humphrey Bogart als Richard 'Rick' Blaine und Ingrid Bergman als Ilsa Lund Laszlo blicken sich in dem Filmklassiker "Casablanca" tief in die Augen. Zu einer Gala-Vorführung des Kino-Klassikers «Casablanca» anlässlich dessen Erstaufführung vor 60 Jahren haben sich am 11.8.2003 in New York Angehörige der beiden Hauptdarsteller Humphrey Bogarts und Ingrid Bergman getroffen. Mit dabei waren Bogarts Witwe, Hollywood-Schauspielerin Lauren Bacall, mit dem gemeinsamen Sohn Stephen Bogart, Ingrid Bergmanns Tochter, Schauspielerin Isabella Rossellini sowie zwei weitere Töchter. Der Siegeszug des Filmklassikers hatte im Januar 1943 begonnen. In diesem Jahr gewann der Streifen von Regisseur Michael Curtiz drei Oscars.
    Humphrey Bogart als Richard 'Rick' Blaine und Ingrid Bergman als Ilsa Lund Laszlo (picture alliance / dpa)
    Birgid Becker: Nimmt man die drei Monate von November 1942 bis Januar 1943, denkt sich die marokkanische Stadt Casablanca dazu, dann ergeben sich Jahrestage mit einer ganz bemerkenswerten, etwas bizarren Verschränkung zwischen Geschichte und Fiktion, zwischen Politik und Leinwand, zwischen Realität und Film. Casablanca im Januar 1943 – das ist der Ort für ein geheimes Treffen zwischen Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, das einen Wendepunkt im Verlauf des Zweiten Weltkrieges markiert. An diesem Ort wird die bedingungslose Kapitulation der Achsenmächte Deutschlands und Italiens als Kriegsziel der Alliierten formuliert. Es wird verabredet, die Luftangriffe auf Ziele in Deutschland zu intensivieren. Das ist Casablanca als historisches Ereignis Ende Januar 1943.Casablanca, der Kultfilm, im November 1942 zum ersten Mal aufgeführt. Humphrey Bogart, Ingrid Bergmann, das Liebes-Polit-Flüchtlingsdrama, der Kultfilm, der uns die Bonmots von den üblichen Verdächtigen beschert hat oder den Beginn einer wundervollen Freundschaft.
    Casablanca als historisches Ereignis vor einem dreiviertel Jahrhundert und Casablanca der Film – beides hat miteinander zu tun. Beides ist verwoben und verschränkt, aber nicht auf so simple Weise, wie es in Filmführern schon mal zu lesen ist. Da heißt es: "Casablanca der Film sei Teil einer Propagandamaschinerie." Stimmt das, habe ich Norbert Pötzl gefragt, der über die Casablanca-Verquickungen ein Buch geschrieben hat. Also: Play it again, Sam. Ein Auftragswerk der US-Regierung?
    Norbert Pötzl: Na ja, es war sicherlich ein Propagandaauftrag dahinter. Denn die Amerikaner waren noch im Juli 1941 – da gibt es eine Umfrage – zu 80 Prozent dagegen, dass Amerika in diesen Krieg eingreift. Und dieses war die politische Botschaft des Films, verkörpert durch den amerikanischen Barbesitzer Rick Blaine, der sich vom Zyniker, vom Ohnemichel im Laufe des Films zu dem wandelt, der das moralisch Gebotene tut. Das ist die Parabel des Films für die Kriegssituation, um die amerikanische Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit einer Kriegsbeteiligung Amerikas vorzubereiten. Zum Zeitpunkt als der Film anlief in den Kinos, war Amerika ja bereits hineingezogen worden in die kriegerischen Auseinandersetzungen, nämlich durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 8. Dezember 1941. Damit war klar: Amerika musste sich verteidigen gegen den Aggressor. Hitler und Mussolini haben in ihrem Größenwahn sofort auch Amerika den Krieg erklärt. Aber der Film, die Filmhandlung spielt, wie man genau sehen kann, zwischen dem 2. Und 4. Dezember 1941, also genau ein paar Tage vor Pearl Harbor. Das heißt, diese politische Botschaft sollte der Film schon noch transportieren.
    Beschäftigung mit der Emigrantenproblematik
    Becker: Der Grundsatz-Dissens Isolationisten versus Interventionisten, das spiegelt sich schon im Film. Aber zu sagen, er wäre ein Auftragswerk?
    Pötzl: Nein, ein Auftragswerk nicht. Dem Film liegt ja zugrunde ein Theaterstück, das in den Jahren 1938 bis 1940 entstanden war und das sich mit der Emigrantenproblematik beschäftigte. Einer der beiden Autoren des Theaterstücks war in Europa gewesen, hatte dort erlebt, wie die Nazis mit den Juden umgingen, wie die Juden Europa verlassen wollten, auf welchen Fluchtwegen. Darauf hat er sein Theaterstück aufgebaut und dieses hat der Film auch übernommen. Und diese Fluchtroute war auch historisch völlig korrekt. Solange Frankreich nicht von der Wehrmacht besetzt war, konnten die Flüchtlinge von Marseille aus nach Amerika fahren. Nachdem Frankreich besetzt war beziehungsweise der südliche Teil von einer, mit Hitler kollaborierenden Regierung des Marschalls Pétain verwaltet wurde, war diese Fluchtroute versperrt. Die Flüchtlinge mussten also über Casablanca – hatte auch immer noch zu diesem Zeitpunkt den Vorteil, dass sie niemals französisches Territorium verlassen mussten. Das heißt, bis Casablanca kamen sie ohne Ausweisdokumente. Erst dort wurde es problematisch.
    In 14 Tagen von der Rohfassung zum fertigen Film
    Becker: Als das Studio, die Warner Brothers diesen Casablanca-Film bewarben, mit dem Hinweis, kaum ein Film sei politisch so aktuell wie dieser, das war schon richtig, aber nicht ganz geplant, sondern zum Teil auch Zufällen geschuldet.
    Pötzl: Sicherlich! Es fing damit an, dass der Film im Sommer zwischen Ende Mai und Anfang August 1942 in einem kalifornischen Studio gedreht wurde. Er war fast fertig, aber erst im Rohschnitt, als amerikanische und britische Truppen Anfang November 1942 französisch Nordafrika, das von Vichy-Frankreich verwaltete französisch Nordafrika eroberten und besetzten. Erst dadurch war ja dann auch möglich, dass die Konferenz von Casablanca im Januar dort in dieser befreiten Stadt stattfinden konnte. Nachdem Nordafrika besetzt worden war und Casablanca als der Zentralort, die Metropole Marokkos, immer in den Schlagzeilen war, hat Warner Brothers alles daran gesetzt, innerhalb von 14 Tagen aus dieser Rohfassung, die vorlag, einen fertigen Film zu machen und ihn tatsächlich am 26. November 1942 in einem New Yorker Kino Prämiere feiern zu lassen. Seltsamerweise lief der Film, obwohl er sehr erfolgreich war – das war ein Kassenschlager -, in keinem anderen Kino zu dieser Zeit. Er war auch eigentlich erst für 1943 geplant. Und er kam erst in die amerikanischen Kinos – und darauf bezieht sich dieses Zitat aus der Werbung, das Sie eben genannt hatten – am vorletzten Tag der Konferenz von Casablanca. Am 23. Januar 1943 begann in amerikanischen Kinos landesweit und in den folgenden Tagen in 200 Kinos ein Massenstart von Casablanca. Das kann nicht nur Zufall gewesen sein. Natürlich war es Glück, dass genau zu diesem Zeitpunkt der Film auch fertig war, aber eigentlich war der Start noch ein bisschen später vorgesehen gewesen.
    Undatierte Aufnahme  eines "Casablanca"-Filmplakats mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann
    Filmplakat Casablanca (EMPICS/dpa)
    Frappierend und faszinierend nachzuzeichnen
    Becker: Was war für Sie das besonders Faszinierende an dieser Arbeit, Parallelen und Verschränkungen herzustellen zwischen dem historischen Ereignis gleichen Namens und dem Film?
    Pötzl: Ja, wie Sie eben sagen: Es sind so viele Bezüge zwischen beiden Ereignissen. Zu dem Zeitpunkt, als der Film gedreht wurde, war die deutsche Wehrmacht überall auf dem Vormarsch gewesen. Sie war vor Moskau gestanden, sie hatte schon weite Teile der Sahara erobert, die U-Boote machten den Atlantik unsicher und versenkten amerikanische Handelsschiffe. Und deswegen tritt ja auch der Major Strasser in der Eingangsszene gleich sehr großkotzig auf: "Wir müssen uns mit jedem Klima zurechtfinden, ob in Russland oder in der Sahara."
    Und im Laufe dieses Jahres wandelt sich das Bild. Die Deutschen sind überall auf dem Rückzug. Die 6. deutsche Armee ist in Stalingrad eingekesselt, General Rommel wird von den Briten, die treiben Rommel vor sich her über Tunesien, vertreiben ihn vom afrikanischen Festland, und der Code der deutschen Marine ist geknackt worden, die U-Boote stellen nicht mehr diese Gefahr dar. Dieses alles spielt sich in diesem einen Jahr zwischen 1941, Ende 1941, wo die Spielhandlung stattfindet, und der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 statt. Da sind so viele Parallelen, die für mich einfach frappierend und faszinierend nachzuzeichnen waren.
    Transit-Visa hat es in Wahrheit nie gegeben
    Becker: Was nicht immer in der Logik ist – und das ist ja auch ein beliebtes Spiel unter Cineasten -, das ist, nach Filmfehlern, nach dann doch historischen Unkorrektheiten zu suchen, und Sie haben auch ein paar gefunden.
    Pötzl: Ja. Das Bedeutsamste vielleicht – aber das ist natürlich ganz bewusst gemacht, obwohl sonst der Film versucht, wirklich authentisch zu sein -, diese Transit-Visa, um die es die ganze Zeit geht, …
    Becker: Mit denen der Film ja auch beginnt, wo der Kurier ermordet wird, der diese Transit-Visa bei sich hat.
    Pötzl: Genau. Und diese Transit-Visa hat es in Wahrheit nie gegeben, vor allem nicht in dieser Form, dass man selbst die Namen eintragen konnte und dass sie nicht widerrufen werden konnten, wie in einem Dialog erklärt wird, sondern natürlich hätte das von der Vichy-Regierung ausgestellt werden müssen auf bestimmte Personen. Aber diese Visa, die am Anfang schon als gestohlen gemeldet werden, die dann von Rick versteckt werden – alle suchen sie und am Ende übergibt sie Rick dem Flüchtling Victor Laszló und seiner Frau Ilsa Lund, damit sie die Ausreise machen können. Wären diese Transit-Visa nicht erfunden worden, wäre die Geschichte auch ganz schnell am Ende gewesen.
    Becker: Da muss dann Fiktion auch für sich selber stehen.
    Pötzl: Genau.
    Aus der Zeit heraus verständlich
    Becker: Rick, der Zyniker, entscheidet sich für das Gute, gibt seine Liebe gleichsam, wie er sagt, als Opfer hin. Ist das eine Botschaft, die Casablanca weiterhin zum Kultfilm machen wird, machen kann – jetzt, 75 Jahre nach der Erstausstrahlung -, oder muss man sagen, das ist eine Botschaft, die ist in die Jahre gekommen, wie vielleicht auch der Film in die Jahre gekommen ist?
    Pötzl: Das ist ja wirklich das Komische, dass dieser Film so zeitlos ist, obwohl er sehr viele Zeitbezüge enthält, die man kaum noch versteht. Da sind Dialogsätze hineingeschrieben, die wirklich nur aus der Zeit heraus verständlich sind.
    Becker: Nennen Sie ein Beispiel.
    Pötzl: Ein Beispiel ist: Wir haben ja über den Isolationismus gesprochen. Da sagt der Besitzer des Blauen Papagei, der Rick sein Café abkaufen will: "Mein lieber Rick, wann wird Ihnen endlich klar, dass in der Welt von heute der Isolationismus keine zweckmäßige Politik mehr ist." – Dieser Satz steht völlig erratisch im Skript, hat mit dieser Handlung überhaupt nichts zu tun. Aber das Wesentliche sind ja wirklich diese sehr berührenden Momente. Das Stärkste ist natürlich vielleicht, wenn in dem Café die Band die Marseillaise intoniert, um die Nazis, die die Wacht am Rhein grölen, niederzusingen, und es gelingt ihnen auch. Das ist ja auch heute noch packend.
    Becker: Der Film ist zeitlos schön, nicht wahr?
    Pötzl: Genau. Und genauso ist es mit dem Schluss, dass Rick auf seine große Liebe verzichtet und dass sie miteinander ringen, wer geht jetzt, wer bleibt da, wie lösen wir das auf. Und diese Botschaft, man muss, um das Gute zu tun, auch mal persönliche Opfer bringen, das steht ganz stark an diesem Ende, und das ist auch heute gültig.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.