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Catherine Norbury: "Die Fischtreppe"
Schilderung einer erwanderten Selbstfindung

Catherine Norbury wandert an Flüssen entlang zu deren Quellen. Was als Trauerarbeit begann, wird für das Adoptivkind Norbury zur Suche nach der Quelle ihres Lebens. In "Die Fischtreppe" - ihrem Debut - schildert die Britin den Weg ihrer Selbstfindung: eine große Erzählung über das Verlangen nach Bedeutung in einer säkularen Zeit.

Von Antje Strubel | 17.10.2017
    Cover von Katharine Norburys Buch "Die Fischtreppe" (links), Foto der Autorin (Montage)
    Katharine Norburys Buch "Die Fischtreppe": Aus Gehen, Denken und Aufschreiben wird ein fließender Vorgang (Robin Farquhar Thomson)
    Eine Fischtreppe ist eine wasserbauliche Einrichtung an Fließgewässern, die es Fischen ermöglichen soll, Staudämme oder Wasserfälle zu überwinden. Die Fische springen von Stufe zu Stufe gegen den Strom hinauf, bis sie den Höhenunterschied zwischen Unter-und Oberwasser des Flusses überwunden haben.
    Eine solche Fischaufstiegshilfe ist titelgebend für das Debüt von Katharine Norbury, das von ihren Wanderungen entlang britischer Flussläufe von der Mündung zurück zur Quelle erzählt. Allein oder mit ihrer neunjährigen Tochter Evie wandert Norbury stromaufwärts.
    Metapher Fischtreppe
    Die Fischtreppe steht hierbei als Metapher für den Lebensweg der britischen Autorin, die immer wieder mit starker Gegenströmung kämpfen muss. Mithilfe der Natur versucht sie, eine Reihe einschneidender Erfahrungen zu bewältigen: die Todgeburt eines zweiten, ersehnten Kindes, der Tod ihres Vaters, die Diagnose einer seltenen Form von Brustkrebs, die schwere Erkrankung ihrer Mutter, der Tod einer guten Freundin.
    Aber weit entfernt von einem therapeutischen oder spirituellen Ratgeber ist Norburys "Reise stromaufwärts", so der Untertitel, die so poetisch wie realistische Schilderung einer erwanderten Selbstfindung. Während die Autorin an den Flüssen Großbritanniens unterwegs ist – oft wie eine Pilgerin mit spärlicher Verpflegung, mit Äpfeln, Schokolade, Haselnüssen – ist sie ganz auf die Natur konzentriert, auf den Vorgang des Laufens, die Orientierung in fremdem Gelände.
    "Der Boden stieg an, und der Fluss wurde schmaler, wand sich zwischen Torfabbrüchen, die in einer Höhe von zwei-, dreimal meiner Größe über mir hingen. Ich folgte immer noch den gespalteten Hufspuren des Rotwildes, die das Ufer sprenkelten. In den Biegungen des Flusses lagen nun weiße Steine, ansonsten war die Erde schwarz, die Wurzeln der Heidepflanzen bildeten einen zottigen Saum oben am Ufer entlang. (…) Ringsumher gab es nichts außer dem Moor und dem Himmel, so weich und weiß wie der Bauch einer Gans (…). Die Kargheit des Moores überschwemmte meine Sinne und hungerte sie zugleich aus, und über die verdorrte Heide zu laufen, war beschwerlich; sie war struppig und uneben (…). Dieser Ort musste furchterregend sein, wenn man seinen eigenen Sinnen nicht trauen konnte."
    Genaue Beobachterin
    Norburys Sinnen ist zu trauen. Sie ist eine genaue Beobachterin. Sie kommt vom Film, hat jahrelang als Cutterin und Dramaturgin bei der BBC gearbeitet, ehe sie Creative Writing studierte und anfing zu schreiben. Ihre Schilderungen der Landschaften, die sich entlang schottischer, englischer oder walisischer Flüsse entfalten, haben nichts Romantisierendes. Sie liest die Landschaft, die sie vorfindet. Ob erhaben und unberührt oder kultiviert, ob Raum künstlerischer Gestaltung oder menschlicher Behausung.
    Die industrielle Überformung oder Begradigung der Ufer der Themse, des Dunbeath River, des Severn oder Humber machen sie auch nicht zu einer Moralistin. Es geht ihr vielmehr darum, ihre innere Landschaft und die äußere in einen Einklang zu bringen. Sie ist ausgezogen, um sich selbst zu verstehen, indem sie den Fluss versteht, seine Strömung, seine von menschlichen Eingriffen behelligte Pflanzen- und Tierwelt, die Mythen und Sagen, die sich um seinen Namen ranken und ihn in die europäische Kulturgeschichte einbetten.
    Sie will sich der Übermacht der modernen Natur aussetzen, um Macht über das eigene Leben zurück zu erlangen, und findet Glück und Unbehagen und für beides eine ebenso klare Sprache wie für die Ehrfurcht, die ein aus dem Nebel auftauchender, gewaltiger Bergrücken oder ein unterirdisch gespeister Teich auf einem Hochmoor in ihr auslösen, großartig übersetzt von Sigrid Ruschmeier.
    "Ich ging zur Flussmündung. Ihr Ufer war flach und fruchtbar, grüner Marsch brauner Schlick. Es knallte in einem fort, als schnalzten hundert Zungen, Marschgase, nahm ich an. Und der Humber selbst. So weit und real wie der Tod. Ein paar Meilen flussaufwärts verband eine bei Selbstmördern beliebte Hängebrücke Lincolnshire mit dem East Riding von Yorkshire. (…) Ich hatte Angst, aufs Wasser zu schauen, Angst davor, was ich sehen würde. Einen aufgeblähten Hund, die beiden Glieder wie Stuhlbeine in den blinden Himmel gereckt. Oder was Schlimmeres."
    Nächte im Schlafsach auf torfigem Boden
    Am Dunbeath River begegnet sie Rehen, einem Adler, einem goldenen Frosch oder einer tagaktiven Eule, die ihr als Unheilsbote erscheint. Die Nacht verbringt sie im Schlafsack auf dem torfigen Boden, und als sie einmal aufwacht, steht ein Hirsch hinter ihr.
    "Der Hirsch stand direkt an meinem Kopf. (…) Sein Geweih ragte in die Dunkelheit über mir, ich hatte den Eindruck, als schaute ich durch Bleiglasscheiben in den Himmel. Dort, wo sein Körper war, war die Dunkelheit tiefer, aber er war zu nah, und es war insgesamt zu dunkel, als dass ich seine Beine hätte sehen können."
    "Die Fischtreppe" steht in der Tradition des Nature Writing. Mit dieser literarischen Form setzen sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit den letzten zwei Jahrzehnten vor allem im englischsprachigen Raum verstärkt auseinander. Dieses Beschreiben und Erschreiben der Natur hat so berühmte Vorläufer wie etwa Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson oder auch Nan Shepherd.
    Laut Robert Macfarlane, einem der wichtigsten heutigen Nature Writer, hat sich längst eine Kultur der Natur des 21. Jahrhunderts entwickelt. Damit meint Macfarlane ein verändertes ökologisches Bewusstsein in der Gesellschaft, das auch eine literarische Form begünstige und revolutioniere, die lange als naiv und kitschig galt.
    "Diese Kultur der Natur hat ihre Wurzeln in Angst und Wut, ist vom Wesen her aber leidenschaftlich und fortschrittlich, spricht Millionen von Menschen an und umfasst die verschiedensten künstlerischen Formen, Medien und Verhaltensweisen."
    Als Trauerarbeit begonnen
    Katharine Norburys Buch ist aber auch ein Memoir. Die Schicksalsschläge, die auf sie einprasseln, sind der Anlass ihrer Wanderungen und damit der Anlass zum Schreiben. Mitten in der Depression, in die Norbury nach der Totgeburt ihres zweiten Kindes stürzt, erinnert sie sich an einen Roman des schottischen Schriftstellers Neil Gunn mit dem Titel "Die Quelle am Ende der Welt." Hier bricht ein Protagonist zu Fuß in die Wildnis auf, dessen Kind tot geboren wurde.
    Nach einigen Recherchen stellt Norbury fest, dass die geheime Quelle nicht am Ende der Welt liegt, sondern irgendwo in Schottland. Was als Trauerarbeit beginnt und zuerst nur ein Vorhaben ist, um den nächsten Sommer zu überstehen, wird bald ein elementares Bedürfnis. Ob von ihrem Sommercottage in Wales oder vom Haus einer Freundin in Schottland aus, ob in London oder Liverpool, immer erwandert sich Norbury Trost an einem Fluss.
    Gehen und Denken sind eng miteinander verbunden. D. H. Lawrence bezeichnete die offene Straße als große Heimat der Seele. Kierkegaard schrieb, er sei zu seinen besten Gedanken gegangen und "kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht hinter sich lassen könnte." Auch für Norbury sind Gehen, Denken und Aufschreiben ein fließender Vorgang, der schließlich zu einem Loslassen führt.
    Stromerin, in Kameradschaft mit der Tochter
    Das oft damit verbundene romantische Bild vom einsamen Wolf, der abseits der Zivilisation zu sich selbst findet, wird allerdings durchkreuzt. Zumal Norburys Tochter sie oft begleitet. Und das ist eine der beglückenden Leseerfahrungen bei diesem Debüt. Zuzusehen, wie eine neue, aufregende literarische Figur geschaffen wird: die Stromerin, in Kameradschaft mit ihrer kleinen Tochter.
    Als der Tod des Vaters Norbury fast um den Verstand bringt, spendet ihr die unmittelbare Naturerfahrung nicht allein Trost; sie spürt Heimweh nach diesem Wandern stromaufwärts. Und so wird es, schreibt Norbury, eine Reise zum Beginn des Lebens.
    "Flüsse waren nicht lediglich Grund und Anlass für eine Wanderung, sondern zur Metapher geworden. Die einzelnen Gewässer verflochten sich, verdrehten sich erst zu einem quirligen Faden und später zu einem silbernen Tau (…). Beim Wandern wurden die Gewässer meine Führer, meine Gefährten und Lehrer. Sie bildeten eine Grenze zwischen verschiedenen Seinszuständen: fest, flüssig, luftig. (…) Wo immer ich war, suchte ich die Flüsse auf, und es schien nur logisch, dass der längste Fluss Großbritanniens wenige Meilen vom Haus meiner biologischen Mutter entfernt entsprang."
    Existentielles Unbehaustsein
    Norbury ist ein Adoptivkind. Sie wuchs glücklich in einer Pflegefamilie auf, ohne ihre biologischen Eltern zu kennen. Die Sehnsucht, sich über ihre Herkunft zu verorten, gibt dem Buch seine subtile Struktur. Denn über alle Schicksalsschläge hinaus treibt ein vages Gefühl von Verlust das Wandern an, ein existentielles Unbehaustsein, das mit jedem neuen Verlust eines nahen Menschen wachgerufen wird und sich verschlimmert.
    Das spiegelt beinahe jede der gedanklichen Wanderungen wider, die Norburys tatsächliche Wanderungen begleiten. Immer wieder stößt sie auf Sagen, in denen es um ungewollte, verstoßene, ausgesetzte Kinder geht. Und erstaunlicherweise spinnen sich die Geschichten vieler Flüsse gerade um solche Motive. Als würden die Flüsse selbst von einem unstillbaren Heimweh sprechen.
    Dass alles Leben vom Wasser kommt; diese Weisheit gewinnt hier eine ganz subjektive Bedeutung. Die Quelle, nach der Norbury sucht, ist ihre eigene biografische. Für das Adoptivkind ist es von Bedeutung, einmal im Leben einem Menschen zu begegnen, der ihr ähnlich sieht. Schließlich entdeckt sie an einem Strand in der Nähe von Liverpool das Kloster, in dem sie geboren, von der Mutter fluchtartig verlassen und einer Nonne übergeben wurde. Als Norbury die Mutter aufspürt, will diese mit der Tochter, Resultat eines one-night-stands, nichts zu tun haben. "Die Quelle", stellt Norbury folgerichtig enttäuscht an der Quelle eines Baches fest, ist "absolut nichts."
    "Kein kristallklarer Born. Nur ein Nabel, aus dem Ursuppe quoll, zähflüssig, grün. Das Wasser sickerte und floss nicht."
    Versöhnung, der ein Scheitern innewohnt
    Es ist erstaunlich, wie es Norbury gelingt, alle diese Bedeutungsschichten in eine klare, unsentimentale Erzählung einzubinden, ohne sie zu überfrachten. Zwar windet sich das Schreiben zuweilen wie die Flüsse, verzweigt sich, und manchmal verliert es sich, versickert in Nebenläufen. Dennoch ist Norburys Debüt auch eine große Erzählung über das Verlangen nach Bedeutung in einer säkularen Zeit. Es handelt von unserer Bereitschaft, in der Natur Antworten auf existentielle Fragen zu finden, Zeichen in sie hineinzulesen, die uns Auskunft geben über den Sinn unseres Daseins.
    "Die Fischtreppe" enthält Augenblicke von großer Schönheit und berührende Szenen wie die, als Norbury nach hartnäckiger Suche ihrem Halbbruder gegenüber steht. Es ist eine Versöhnung, der ein Scheitern innewohnt und die Erkenntnis, dass der Ursprung letztendlich auch ein Mythos ist, allerdings einer, den wir offenbar dringend zum Leben brauchen. Denn "wie schnell würde ich mich verirren", schreibt Katharine Norbury in ihrem Buch, "wenn ich mich vom Wasser entfernte."
    Catherine Norbury: "Die Fischtreppe. Eine Reise stromaufwärts."
    Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
    Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017
    285 Seiten, 20 Euro