Forum neuer Musik 2021
Neue Musik jenseits des Menschen

Post- und transhumane Konzepte eint der Glaube an die Überwindung des bisherigen Menschseins. Sie geistern nicht nur durch politische Think Tanks und moderne Ideologien, sie gewinnen auch in zeitgenössischen Künsten Gestalt. Anna Schürmer skizziert eine (Musik-)Ästhetik des 21. Jahrhunderts.

Hörstück von Anna Schürmer | 23.11.2021
    Le Blacon - Dienstag aus Licht - Stockhausen
    Szene aus Karlheinz Stockhausens Oper "Dienstag" aus dem Zyklus "Licht" (Deutschlandradio / Elise Lebaindre )
    Während Transhumanisten eine Optimierung von Körper und Geist voran treiben, ist der Posthumanismus ein kritisches Denkmodell, das die Radikalität des technokulturellen Wandels reflektiert. Derartige Konzepte gewinnen längst auch in den zeitgenössischen Künsten Gestalt. In der Medienkunst etwa spiegeln dies technoästhetische Praktiken wie Biotech-, Cyber- oder Digital Art. Es handelt sich dabei um weit mehr als nur um ästhetische Aushandlungen. Tatsächlich werden hier lebensweltliche und medientechnologische Umbruchserfahrungen in Wort, Bild und Klang reflektiert und dabei mögliche Zukünfte des Menschseins verhandelt.
    [Textauszug]

    DE|HUMAN: Neue Musik jenseits des Menschen. Von Anna Schürmer

    "In der Literatur beginnt die Auseinandersetzung mit der technologischen Überwindung des Menschen bereits mit der ersten industriellen Revolution: Von E.T.A. Hoffmanns schwarz-romantischen Phantastereien, über Mary Shelleys neo-promethischen "Frankenstein", bis zu Jules Vernes außerplanetarischen Erkundungen. Im 20. Jahrhundert folgten die utopischen Imaginationen der Science-Fiction-Pioniere H.G. Wells und Stanisław Lem sowie die dystopischen Vorstellungen einer "schönen neuen Welt" von Aldous Huxley oder George Orwell, deren Visionen heute in Genres wie dem Cyberpunk aktualisiert werden.
    Audiovisuelle Vorstellungen liefert seit der Erfindung des Tonfilms das Kino mit vielfältigen apokalyptischen Szenarien. Wurden die Folgen einer sich verselbständigenden Technik seit den 1980er Jahren etwa in der "Terminator"-Reihe thematisiert, finden sich post- und transhumanistische Imaginationen heute in den Formaten des sogenannten Quality-TV. Beispielsweise verhandelt die Serie "Black Mirror" die Zukunftsfähigkeit des Menschen unter den Bedingungen digitaler Umwelt.
    Am grundsätzlichsten werden solche Ansätze in der Medienkunst reflektiert, wo technoästhetische Praktiken wie Biotech-, Cyber- oder Digital Art eine Blüte erleben. Künstler wie "Stelarc" zelebrieren die Optimierung des Menschen mittels (bio-)technologischer Prothesen oder ästhetisieren technologische Verfahren wie Robotik oder Virtual Reality. Andere betonen unter den Vorzeichen digitaler Perfektion dagegen gerade den Menschen mit all seinen Makeln, indem Ästhetiken wie Glitch Art, akustisches Rauschen oder visuelle Unschärfeverfahren die menschliche Fehleranfälligkeit als kreativen Faktor simulieren.
    Posthumane Sinfonien: Spiel mir das Lied vom Tod
    In der Musik wurden post- und transhumanistische Konzepte mit Beginn ihrer medientechnischen Transformation in der Mitte des 20. Jahrhunderts relevant. Laut Hans Heinz Stuckenschmidt vollzieht sich dabei eine Entwicklung vom "Urinstrument" über "instrumentale Prothesen" bis ins "dehumanisierte" Zeitalter elektronischer Medien. Schon 1954, ein Jahr zuvor, sah Edgar Varèse den "Tod des Interpreten" und damit eine "Befreiung des Klangs" voraus: "Was die Zukunft betrifft, so wird der Interpret verschwinden. Denn es ist logisch, einen Apparat vorauszuahnen, auf dem jede beliebige Kombination von Rhythmen und Intervallen herzustellen ist."
    Kann Varèse in seiner Vision von der Überwindung des menschlichen Mittlers mittels technischer Prothesen als Transhumanist bezeichnet werden, so ist John Cage konzeptuell dem Lager des Posthumanismus zuzurechnen: Indem er mit seinem Fokus auf Zufallsprinzipien den Tod des genialen Schöpfersubjekts auf klingendem Gebiet vollzog, trat der amerikanische Komponist auch hier einmal mehr als Vordenker in Erscheinung.
    Der einflussreichste Audio-Visionär einer Musik "jenseits des Menschen" aber ist Karlheinz Stockhausen. Und zwar nicht nur strukturell, indem er die Musik den elektronischen Mitteln seiner Zeit öffnete. Durch Lautsprecher, welche die Klänge vom Ort ihres Entstehens entgrenzten, ersetzte der Komponist den Interpreten als auratisches Genie auf der Bühne. Auch konzeptuell erschloss er post- bzw. transhumane Klanglandschaften."
    Dr. Anna Schürmer
    1980 in Freising geboren. Interessiert sich für Diskurse, Medialität und Ästhetik der zeitgenössischen Musikkultur. Als Musikjournalistin publiziert sie für diverse Print- und Funkmedien. Als Medienkulturwissenschaftlerin forscht sie seit Abschluss ihrer Dissertation "Klingende Eklats" (2018) zu den "Posthumanen Sinfonien" der digitalen Ära. 2019-21 wiss. Mitarbeiterin des Instituts für Medienkulturwissenschaftan der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2021 wiss. Mitarbeiterin der Brückenprofessur "Musik + Medien" an der Martin-Luther-Universität Halle.
    www.interpolationen.de