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CDU-Politiker Herbert Reul zur Flüchtlingspolitik
"Die Vernünftigen der Welt müssen zusammenarbeiten"

Nach Ansicht von Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, müsse die EU der Türkei jetzt konkrete Unterstützung in der Flüchtlingsfrage anbieten. Immer weniger politische Führungen in Europa seien bereit, das Europäische in den Mittelpunkt zu stellen, wenn es um die großen Fragen gehe. Dies sei eine egoistische Haltung, sagte er im DLF.

Herbert Reul im Gespräch mit Sandra Schulz | 18.02.2016
    Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament.
    Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament. (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)
    Sandra Schulz: Auf diesen Punkt werden sich die meisten Europäer wohl noch einigen können. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die Europäische Union vor einer historischen Bewährungsprobe. So hat sie es gestern im Bundestag gesagt, angesichts der instabilen Weltlage, angesichts der Hunderttausenden Menschen, die Schutz oder eine Perspektive in Europa suchen. Nur über die Antworten, da fehlt es so gründlich an Gemeinsamkeiten. Immer mehr Länder schotten sich ab, weitere Verhandlungen über Kontingente hat die Kanzlerin mangels Masse schon mal abgesagt, und in Großbritannien rückt ein Referendum über einen möglichen Brexit offenbar näher und jetzt werden die Gespräche auch noch überschattet von dem schweren Anschlag in der türkischen Hauptstadt Ankara. Die Türkei ist ja ein wichtiger Partner, jedenfalls aus Sicht der Bundesregierung, in der Flüchtlingsfrage. Über diese schwierige Ausgangslage wollen wir in den kommenden Minuten sprechen mit dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, mit Herbert Reul. Guten Morgen.
    Herbert Reul: Guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Was bedeutet dieser erneute schwere Anschlag für die Türkei?
    Reul: Wahrscheinlich zweierlei. Erstens, dass die Vernünftigen in der Welt merken müssen, dass sie zusammenarbeiten müssen, dass einer alleine diese dramatische Herausforderung nicht angehen kann, und vielleicht auch ein Stück mehr Nachdenklichkeit in den Debatten und weniger Egoismus.
    Schulz: Das ist eine große Zuversicht, die Sie jetzt äußern. Eine ganz direkte Konsequenz ist: Das geplante Treffen, das für heute ja angesetzt war, zwischen dem türkischen Ministerpräsidenten und der sogenannten Koalition der Willigen, also einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, die vorangehen wollten oder sollten in der Flüchtlingsfrage, das ist jetzt abgesagt. Die Kanzlerin sieht wie gesagt die Türkei ja als wichtigen Partner. Aber wenn die Spannung jetzt wächst, wird eine Zusammenarbeit dann nicht auch schwieriger?
    Reul: Es kann so oder so sein. Es ist ja ganz schwer, so etwas vorauszusagen. Es kann sein, dass die ganze Veranstaltung noch aufgeregter wird und beunruhigter wird. Es kann aber auch sein, dass alle begreifen, um was es wirklich geht, dass das Herausforderungen sind, die im Moment zu bewältigen sind, die ein Mitgliedsstaat alleine nicht kann, und das war ja damals auch derselbe Grund, warum die Europäer sich zusammengeschlossen haben, um Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Und manchmal gibt es so dramatische Ereignisse, die einen wachrütteln. Ich hoffe darauf!
    Schulz: Was kann oder muss die Europäische Union der Türkei anbieten?
    Reul: Sie muss anbieten oder hat schon angeboten, und ich halte das auch für vernünftig, erstens ganz konkrete Unterstützung bei den Flüchtlingen, die in der Türkei sind, damit die eine Perspektive haben, damit die Türkei damit auch nicht allein gelassen ist, aber damit die Flüchtlinge, die dort sind, auch Chancen entwickeln können. Und zweitens natürlich auch eine Perspektive, dass man sie ernst nimmt, auch in Zukunft sie mit ins Boot nimmt im Sinne von mit ihr ernsthaft zusammenarbeitet.
    "Das Thema Solidarität ist nur noch Lippenbekenntnis"
    Schulz: Und damit sind wir jetzt ja schon bei der schwierigen Ausgangslage, die es ohne den Anschlag in der Türkei auch schon gegeben hat. Die Kanzlerin hat gestern und vorgestern in Berlin schon gesagt, über die Kontingente, da sprechen wir mal lieber nicht, wir haben ja die 160.000, über die wir uns eigentlich schon geeinigt haben, noch nicht mal verteilt. Wie allein ist Merkel in Europa?
    Reul: Ich glaube gar nicht, dass das stimmt, dass sie alleine ist. Es spitzt sich im Moment zu, weil es auch Gruppen gibt, die eine entgegengesetzte Position haben, und damit gibt es dann zwei Gruppen in Europa, und das ist auch schlecht und auch nicht gut. Aber ich befürchte, dass das eigentliche Problem nicht ist, sind sie bei Merkel oder sind sie nicht bei Merkel, sondern dass immer mehr Mitgliedsstaaten nur an sich selber denken, also dass das Thema Solidarität nur noch Lippenbekenntnis ist und in der Wirklichkeit jeder sein nationales Süppchen kocht, und das hat dramatisch zugenommen, die Haltung.
    Schulz: Herr Reul, wenn Sie sagen, dass Angela Merkel gar nicht so alleine ist, dann sagen Sie uns doch mal, woran man merkt, dass in dieser sogenannten Koalition der Willigen überhaupt Staaten sind, die willig sind?
    Reul: Na ja. Ich meine, es hat immerhin eine Menge von Beschlüssen in der Vergangenheit gegeben, auch im Rat. Ich meine, so schwierig das im Moment auch ist, gibt es ja keinen Streit über die Frage, Außengrenzen zu sichern. Und dass dies auch die vorrangige Priorität ist, das bestreitet ja auch keiner. Es gibt einen Streit darüber, ob dieses Konzept Türkei richtig ist. Es gibt einen Streit darüber, ob das greift, ob das reicht. Aber ich glaube, über die Verteilungsfrage ist damals ein Klima aufgebrochen, was vorher schon da war, dass in immer mehr Staaten nationale Bestrebungen dominant geworden sind und dass wir immer weniger politische Führungen in Europa haben, die bereit sind, das Europäische in den Mittelpunkt zu stellen, wenn es um die großen Fragen geht.
    Schulz: Aber muss die Kanzlerin dann nicht einfach sehen, wenn sie jetzt gerade gestern im Bundestag noch mal eine gemeinsame Haltung zur Flüchtlingsfrage fordert: Gibt es diese Haltung nicht schon längst, nämlich die, wir nehmen nicht mehr?
    Reul: Das weiß ich nicht. Das ist ein Teil. Es gibt aber auch den Teil, der war zumindest bis vor kurzem unbestritten, ich vermute, wenn man abstimmen würde, heute auch, dass Europa eine Verpflichtung hat, denjenigen, die um ihr Leben wegrennen, die um ihr Leben fürchten, zu helfen. Die Flüchtlingskonvention haben ja alle unterschrieben, um es mal relativ deutlich zu sagen. Ich glaube nicht, dass dies bestritten wird. Die Frage ist nur, wie macht man das jetzt am cleversten. Bei einigen ist mehr, bei anderen ist weniger Aufregung. Einige trauen sich mehr zu, andere wollen keine, das stimmt. Aber im Grundsatz ist das Problem nicht da. Das Problem ist in der ganz konkreten Umsetzung in den jeweiligen Staaten, weil sie sich von Stimmungen vor Ort hetzen lassen, und das ist das Dilemma, dass zu wenig politische Führer einfach den Mut haben, auch ein wenig dafür sich einzusetzen, die Fragestellungen dieser Dimension gehen alleine nicht mehr.
    Schulz: Ist das Problem nicht eher, dass die anderen Europäer einfach was anderes wollen? Sie schildern jetzt natürlich die deutsche Perspektive. In Deutschland sehen viele Menschen das so. Aber hat Deutschland jetzt wieder den Anspruch, besser als alle anderen zu wissen, was richtig ist?
    Reul: Nein. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, dass man sich verständigt. Dieser Beschluss, dass man sich um die Flüchtlinge kümmert, der Beschluss sogar der Verteilung, den ich für den problematischsten halte, das gab es ja entweder einstimmig, oder sogar mit großer Mehrheit. Selbst im Rat, im Parlament gab es gar keinen Streit darüber, oder keinen großen. In der Kommission gibt es Konsens. Im Moment ist wirklich das Problem einige Mitgliedsstaaten, und ich glaube die Haltung der Mitgliedsstaaten, diese egoistische Haltung, die früher so nicht da war.
    "Wenn Europa Mitglieder verliert, besteht die Gefahr, dass das der Anfang vom Ende sein könnte"
    Schulz: Jetzt sprechen wir die ganze Zeit über die Kanzlerin und ihren schwierigen Stand in Europa. Jetzt gibt es einen Mann, der sein Ding allerdings auch ziemlich im Alleingang macht: der britische Premier Cameron nämlich mit seiner Forderung nach Zugeständnissen. Warum kommt die EU ihm so weit entgegen?
    Reul: Weil man einfach vor der Frage steht, will man, dass die Briten dabei bleiben, oder will man, dass sie rausgehen. Und wenn man möchte, dass Großbritannien - ich halte es für zwingend -, so ein großes Land dabei bleibt, dann muss man, glaube ich, dem Herrn Cameron helfen, dass er aus der schwierigen Lage, in die er sich zugegebenermaßen auch ein Stück selbst reinmanövriert hat, rauskommen kann. Und dafür braucht er Erfolge. Er muss bei der Bürgerbefragung Erfolge vorweisen können, und das ist der wahre Grund. Und ich finde, soweit das bisher verhandelt wird, kann man ihm auch entgegenkommen. Es ist so an der Grenze, aber es geht.
    Schulz: Aber einer der Punkte, in dem geht es ja gerade darum, wie eng sich Großbritannien an die Europäische Union bindet, wieweit Großbritannien die europäische Integration mit vollzieht. Kann die EU so ein Mitgliedsland, so einen Mitgliedsstaat in Zeiten einer so harschen Krise überhaupt verkraften?
    Reul: Das ist gar nicht einfach zu beantworten. Ich glaube, wenn Europa Mitglieder verliert und große und starke Mitglieder verliert, besteht die Gefahr, dass das der Anfang vom Ende sein könnte. Und deshalb will ich das möglichst vermeiden. Aber natürlich haben Sie auch Recht: Je weiter man nachgibt, desto mehr erodiert der Gedanke auch, und deswegen ist das ein nicht ganz einfacher Vorgang, der jetzt da stattfindet. In den sind wir aber nicht gekommen, weil die Europäer das wollten, sondern weil alle politischen Kräfte in Großbritannien da irgendwie durchgedreht sind und sich haben von Emotionen leiten lassen, weil keiner da war, der sich an die Spitze gestellt hat und gesagt hat, es hat für uns Sinn, dieses Europa, das lohnt sich, das ist vernünftig, das ist richtig. Diese politischen Kräfte - da sind wir wieder am Anfang - finden wir nicht nur in Großbritannien, sondern auch in fast allen Staaten.
    Schulz: Der CDU-Europaabgeordnete Herbert Reul heute Morgen hier bei uns in den "Informationen am Morgen". Ganz herzlichen Dank für dieses frühe Interview.
    Reul: Danke sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.