Maike Wetzel: "Elly"

Der schlimmste Albtraum für eine Familie

Buchcover "Elly" von Maike Wetzel, im Hintergrund die Schatten einer Familie
"Elly" von Maike Wetzel: Das Romandebüt einer versierten Erzählerin, urteilt unser Rezensent. © Verlag Schöffling & Co. / dpa / M. C. Hurek
Von Hans von Trotha · 06.08.2018
Ein elfjähriges Mädchen ist spurlos verschwunden. Was macht dieser schreckliche Verlust mit denen, die zurückbleiben? Schonungslos erzählt Maike Wetzel in ihrem Debütroman "Elly" von übergroßem Schmerz - und seiner zerstörerischen Kraft.
Ein Kind verschwindet. Ein Mädchen, elf Jahre alt, macht sich auf den Weg zum Judotraining, kommt dort aber nie an. Sie hinterlässt keinerlei Spuren, sie bleibt wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann ist sie "keine Nachricht mehr. Sie hat sich versendet", wie ihre Schwester bitter bemerkt. "Der Polizist sagt, es gibt zwei Möglichkeiten, wenn Kinder nach 24 Stunden nicht gefunden werden. Sie können Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sein, oder sie wollen nicht gefunden werden."

Die Erzähler kreisen um die leere Mitte

Maike Wetzel leuchtet in ihrem ersten Roman den wohl schlimmsten Albtraum, der eine Familie ereilen kann, grell aus, indem sie in einer konzentrierten erzählerischen Versuchsanordnung mehrere Betroffene zu Wort kommen lässt, die jeweils in der ersten Person erzählen, wie sie sich angesichts der Katastrophe einer ewig nagenden Ungewissheit in ein neues Leben zu retten versuchen.
Immer wieder definiert sich das jeweils erzählende Ich durch sein Erzählen als ein anderes, stets um die leere Mitte kreisend, wobei die Inszenierung der weiblichen Stimmen in der emotionalen Verknappung, die den Text auszeichnet, noch stimmiger erscheinen als die des Vaters, der als einziger Mann zu Wort kommt, ein Rolltreppeningenieur, der seine Lage eher analysiert.
"Alle behaupten, die Zeit heile alle Wunden. Aber unsere Zeit steht still", heißt es einmal. Und tatsächlich hat Maike Wetzels erzählerischer Gestus etwas von angehaltenem Atem – angehalten vor Schreck, aus Ratlosigkeit, weil es nichts mehr zu sagen gibt oder auch, weil es sich verbietet zu sagen, was zu sagen wäre: Vermeintlich letzte Atemzüge, nach denen es aber doch immer weitergeht, sei es Dank der Pharmaindustrie (die Mutter), Dank kindlichen Überlebenswillens (die Schwester), Dank des Versuchs, eine verkümmernde Beziehung doch noch zu retten (der Vater).

Viele Tabus und dröhnendes Schweigen

Doch da sind die vielen Tabus, mit denen die Leerstelle dieser Erzählung in dröhnendem Schweigen umstellt ist: "Meine Schwester ist tot. Ich traue mich kaum, das zu denken, weil ich weiß, dass mein Glaube genügt, um sie umzubringen", sagt die Schwester, und: "Heimlich bin ich wütend auf meine Schwester. Sie nimmt mir alles weg. Ich habe kein Recht, fröhlich zu sein, wenn meine Schwester leidet, wenn sie vielleicht tot ist, wenn sie allein in einen Kerker gesperrt, vergewaltigt, ohne Sonne, ohne vernünftige Nahrung vegetiert. Elly ist weg. Es gibt nichts anderes, was zählt."
Maike Wetzel schreibt in knappen, schweren Sätzen. Es ist das Romandebüt einer versierten Erzählerin: Wetzel hat Film studiert, Drehbücher und Erzählungen geschrieben, Preise gewonnen. Auch in ihrem Roman bleibt sie bei der kurzen Form. Es ist ein schmales, konzentriertes Buch, das einen übergroßen Schmerz und seine zerstörerische Kraft schonungslos ausmisst. Während die Erzählerin in großem Ernst auf Verdichtung, Genauigkeit und Klarheit setzt, zerstäubt die Vielfalt der Stimmen jede Illusion von Sicherheit. Und sie erlaubt überraschende Wendungen – bis zum Schluss.

Maike Wetzel: Elly
Roman
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2018
152 Seiten, 20 Euro

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