Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Chance für eine neue Wahrnehmung

Aus den Tiefen tschechischer Archive haben die beiden Historiker Tomáš Stanek und Adrian von Arburg eine in ihrer Tiefe einzigartige Darstellung der Aussiedlung von Deutschen aus dem tschechischen Grenzgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengetragen. Von Arburg hofft, dass das mehrbändige Werk auch auf Deutsch erscheinen wird.

Adrian von Arburg im Gespräch mit Dina Netz | 16.08.2011
    Dina Netz: Was genau damals passiert ist, wie freiwillig Elisabeth Schwarzkopf in die NSDAP eintrat, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Immerhin sind die verfügbaren Dokumente einsehbar und ausgewertet. Das kann man jetzt auch, aber eben erst jetzt, von den rund 3000 Dokumenten sagen, die zwei Historiker in tschechischen Archiven zusammengetragen haben und jetzt unter dem Titel veröffentlichen: "Die Zwangsaussiedlung der Deutschen und der Wandel des tschechischen Grenzgebiets 1945 bis 1951". So ist der deutsche Arbeitstitel, bisher kommt das Werk nur auf Tschechisch heraus, die ersten Bände sind erschienen. Zehn Jahre lang haben der tschechische Historiker Tomáš Stanek und sein Schweizer Kollege Adrian von Arburg in 60 tschechischen Archiven geforscht und mit 40 weiteren Mitarbeitern zusammen diese Dokumentation erarbeitet. Drei Millionen Deutsche sind nach dem Ende der NS-Herrschaft aus Tschechien vertrieben worden, und die Umstände dieser Vertreibung und die historischen und politischen Zusammenhänge werden nun dokumentiert. Ich habe Adrian von Arburg gefragt: Haben die Materialien neue Erkenntnisse über die Vertreibung der Deutschen ergeben oder belegen sie nur Bekanntes noch einmal in sehr geballter Form?

    Adrian von Arburg: Nein, es gibt da sehr viel Neues. Ich kann hier nur Beispiele nennen, was die erste Phase der Vertreibung anbelangt, also die sogenannte wilde Vertreibung im Jahre 1945. Es hat Jahrzehnte lang geheißen, durchaus auch auf deutscher Seite, dass das eine Art Äußerung des Volkszornes war, also eine spontane Aktion. Wir konnten jetzt anhand von Dutzenden Dokumenten beweisen, dass es sich mehrheitlich um eine im Voraus geplante und zentral koordinierte Aktion der tschechoslowakischen Armee gehandelt hat. Ich denke, das ist kein nebensächlicher Aspekt. Es geht hier um die Verantwortung für viel Unschönes, das passiert ist in diesen ersten Nachkriegsmonaten. Wir haben aber auch Hunderte von Dokumenten, die die sozialen Beziehungen in den Sudentengebieten zwischen den ganz verschiedenen Gruppen, die dort als Altsiedler oder als Neusiedler anwesend waren, die diese Beziehungen dokumentieren, illustrieren. Das ist eine Dokumentationstiefe und -schärfe, die man bisher nicht gehabt hat.

    Netz: Die Tschechen bekommen ja durch ihre Dokumentation also noch mal einen anderen Blick auf ihre Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, aber die Deutschen doch auch, oder?

    von Arburg: Ja, wenn Sie wollen. Es geht hier vor allem um die tschechoslowakische Staatspolitik nach 1945 gegenüber der deutschen Bevölkerung, aber auch das Verhalten der deutschen Zivilbevölkerung kommt immer wieder zum Vorschein. Ich glaube, auf deutscher Seite ist es auch sehr wichtig, dass man endlich den Blick auch legt auf das Schicksal der anderen, dass man nicht nur das eigene Leiden, das eigene Schicksal betont, sondern eben auch schaut, welche anderen Bevölkerungsgruppen hier in diesen Siedlungsgebieten anwesend waren oder dazukamen. Auch für diese Menschen, also Tschechen, Ungarn, die zum Beispiel aus der Südslowakei deportiert worden sind, auch für diese Menschen begann eine neue Lebensepoche, also ein tiefer Einschnitt in ihr Schicksal hat stattgefunden. Und ich denke, in dieser kombinierten Dokumentierung des Schicksals von allen anwesenden Bevölkerungsgruppen, da liegt eine erhebliche Chance für eine neue Wahrnehmung der ganzen Thematik.

    Netz: Herr von Arburg, Sie wollen ja explizit mit der Dokumentation nicht nur Historiker ansprechen, sondern auch ein breiteres Publikum. Wie wollen Sie das machen mit so recht komplizierten Dokumenten und warum ist das überhaupt wichtig?

    von Arburg: Wir werden natürlich keine Wunder bewirken können mit einer wissenschaftlich gehaltenen Dokumentation, die in acht Bänden erscheint - übrigens kann man die Bände natürlich einzeln erwerben, also niemand ist gezwungen, das ganze Werk zu kaufen. Wir haben von Anfang an versucht, bei Einhaltung der wissenschaftlichen Kriterien auch populärwissenschaftliche Elemente hineinzubringen, das heißt zum Beispiel, dass wir jedem Band eine meistens über hundert Seiten lange Einführung vorausgehen lassen. Wir haben auch jedem Band, außer dem Einführungsband, eine CD-ROM beigelegt, wo der gesamte Buchinhalt vorhanden ist, aber auch zusätzliches multimediales Material wie Fotografien, Karten, statistische Übersichten. Wir haben eine Webseite, die auch ihr eigenes Leben hat, vorerst nur auf Tschechisch. Wir haben wirklich versucht, hier einen Mehrwert hineinzubringen und ungefähr drei Viertel der Käufer sind Laien, die sich einfach fürs Thema interessieren und etwas dazulernen möchten.

    Netz: Und konnten Sie beobachten, ob ihre Dokumentation schon eine Diskussion angestoßen hat in Tschechien, wo die Bücher ja jetzt auf dem Markt sind?

    von Arburg: Um gesellschaftliche oder politische Debatten verändern zu können, da braucht man viel Geduld. Also man kann ab jetzt spätestens unsolide Geschichtsdarstellungen leichter entlarven.

    Netz: Herr von Arburg, damit man aus diesen mononationalen Strukturen der Geschichtsdiskussion herauskommt, wäre es ja auch wichtig, dass die Dokumentation auf Deutsch erscheint - wird sie das?

    von Arburg: Wir hoffen es sehr, und von Anfang an war das auch der Plan. Wir versuchen gerade in diesen Monaten eine Finanzierung auf die Beine zu bekommen - Übersetzungen sind sehr teuer, also das Ganze wird kein Kinderspiel werden, aber bisher schaut es relativ gut aus. Und natürlich sind wir für jeden Support sehr dankbar. Es wäre schön, wenn die ersten zwei, drei Bände im nächsten Jahr auf Deutsch schon auf den Buchläden liegen könnten.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.