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Chancen des demografischen Wandels

Der demografische Wandel, die Tatsache, dass die Menschen nicht nur in Deutschland älter, weniger und kulturell vielfältiger werden, ist bekannt. Die Ausstellung "Zukunft leben. Die demografische Chance" in Berlin zeigt dazu anschaulich eine Vielzahl an Fakten und Untersuchungen.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 28.02.2013
    "Wenn Leute sich in einer Nachbarschaft weniger kennen, identifizieren sie sich auch weniger miteinander und sind vielleicht dadurch weniger bereit, für andere etwas zu tun, wie das Posten eines Briefes."

    Der Migrationsforscher Ruud Koopmans hat in Berlin und anderen Städten ein wissenschaftliches Experiment gemacht. Dafür ließ er 2000 Briefe in unterschiedlichen Stadtteilen auf den Gehweg fallen, frankiert und adressiert an eine fiktive städtische, eine christliche, islamische oder türkische Kulturstiftung. Vier von ihnen zeigt die Ausstellung "Zukunft leben: Die demografische Chance".

    Warum waren manche Finder bereit, das Schreiben in den Briefkasten zu stecken, andere dagegen nicht? Der Sozialwissenschaftler vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung fand heraus, dass nicht die neutrale oder die religiöse Adresse dafür den Ausschlag gab, sondern die Zusammensetzung des Stadtviertels, in dem der Brief gefunden wurde. In homogeneren Nachbarschaften wie Zehlendorf oder Pankow sei er häufiger im Kasten gelandet. Je größer jedoch die ethnische Vielfalt wie etwa in Neukölln oder im Wedding, desto geringer ausgeprägt sei die Bereitschaft dazu beziehungsweise die Solidarität gewesen.

    "Und die zweite Möglichkeit, die auch mit sozialen Netzwerken zusammenhängt, ist soziale Kontrolle. Also kooperatives Verhalten, Verhalten im Sinne der Gemeinschaft ist nicht etwas, das nur durch die Gütigkeit der Menschen zustande kommt, aber auch dadurch, dass Leute sich von anderen beobachtet werden, dass es soziale Normen gibt, und dass diese sozialen Normen auch eingehalten werden."

    Wie viel kulturelle Vielfalt ist möglich, sodass die Menschen in einer Gesellschaft einander vertrauen und miteinander kooperieren? Und wie viel Migration wiederum braucht ein Land wie Deutschland?

    Der demografische Wandel, die Tatsache, dass die Menschen nicht nur in Deutschland älter, weniger und kulturell vielfältiger werden, ist längst bekannt. Die Vielzahl an Fakten und wissenschaftlichen Untersuchungen jedoch, die im Naturkundemuseum anschaulich und multimedial präsentiert werden, dürfte den Besucher überraschen. Sie verdeutlichen, dass sich bei einer konstanten Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau die Bevölkerung Deutschlands bis zum Jahr 2060 um 17 Millionen Menschen verkleinern würde – selbst wenn jährlich 100.000 Zuwanderer ins Land kommen.

    Für Ruud Koopmans, der die Ausstellungskuratoren wissenschaftlich beraten hat, kann Migration zwar kurzfristig den Bevölkerungsrückgang abfedern, nicht aber langfristig ausgleichen:

    "Längerfristig ist das keine realistische Annahme, weil wir aus allen Forschungen wissen, dass – obwohl oft das Gegenteil behauptet wird – aber über die Generationen hinweg es doch relativ rasch zu einer Assimilierung von Migranten an die lokalen Verhaltensmuster kommt. Das gilt auch für das Fertilitätsverhalten. Das heißt zwar am Anfang haben Migranten mehr Kinder als Nicht-Migranten, aber nach weniger Zeit nähern sich diese Zahlen sehr stark an die der einheimischen Bevölkerung an."


    Das Hauptziel besteht nach Ansicht der Wissenschaftler allerdings nicht darin, die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Wichtig sei, dass die Gesellschaft trotz Alterung innovativ, kreativ und lebenswert bleibt. Es gebe keinen Grund zur Panik, aber die Politik müsse jetzt zügig handeln. Karl Ulrich Mayer, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft:

    "Von alleine wird da gar nichts passieren. Als soziologischer Beobachter sage ich: Gesellschaften sind enorm anpassungsfähig. Wir haben uns angepasst an den Babyboom, also an den Zuwachs, wir werden uns auch anpassen an Schrumpfung, aber das geht nicht von alleine. Und Sie sehen ja an dieser relativ erbitterten Debatte um Rente 67, wie viele Probleme wir haben, das auch tatsächlich umzusetzen."

    Die schlummernden Potenziale sollen geweckt werden. Bildung genießt dabei oberste Priorität. Die eine Möglichkeit besteht darin, verstärkt hoch qualifizierte Migranten nach Deutschland zu holen. Weil deutsche Arbeitgeber im internationalen Vergleich aber nicht mit hohen Gehältern und niedrigen Steuern locken können, liegen weitere Optionen darin, die bereits hier lebenden Migranten besser auszubilden. Und außerdem das brachliegende, sogenannte Humankapital besser zu nutzen. Für Anette Fasang, Juniorprofessorin für Demografie an der Berliner Humboldt-Universität, liegt darin die Chance des demografischen Wandels:

    "Angenommen die Situation am Arbeitsmarkt wird so, dass es massiven Fachkräftemangel gibt, dann wird natürlich auch in die Bildung von allen Gruppen, die historisch gesehen vom Arbeitsmarkt eher ausgeschlossen waren, das sind Frauen, das sind aber auch Migranten, die zum Teil einen schwereren Zugang hatten, Geringqualifizierte, eröffnen sich natürlich mehr Möglichkeiten. Bei Geringqualifizierten insofern, dass man mehr investieren muss, um die eben auch entsprechend auszubilden."

    Mehr Frauen-Erwerbstätigkeit, eine Rente mit 69, ein früherer Berufseinstieg junger Menschen – für diese Möglichkeiten werben die Wissenschaftler. Die Altersforscherin Ursula Staudinger möchte über ein längeres Berufsleben hinaus auch eine neue Einteilung des Lebens ins Bewusstsein rücken – weg von der klassischen Dreiteilung in Bildung am Anfang, Arbeit in der Mitte und Privatleben am Ende.

    "Wir wissen, dass wir das in einem länger gewordenen Leben anders mischen können, anders ordnen können und anders ordnen sollten. Zum Beispiel in einer Wissensgesellschaft, in einer Gesellschaft, in einer Zeit, die sich durch technische und andere Entwicklungen sehr schnell verändert, kann es nicht mehr ausreichen, nur am Anfang des Lebens einmal zu lernen. Wir werden immer wieder lernen, weiter lernen, auch mehrere Tätigkeiten im Laufe eines Berufslebens ausüben. Dies muss durch Weiterbildung, durch Trainingsmaßnamen begleitet werden."

    Die verkürzte Bildungsphase am Lebensanfang soll ihrer Ansicht nach inhaltlich neue Schwerpunkte legen auf den Umgang mit dem Lernen und mit Informationen. Der frühe Berufseinstieg führe einerseits dazu, Beruf und Familie besser vereinbaren, ein Sabbatical nehmen oder in Elternzeit gehen zu können. Andererseits müsse man sich im Laufe des länger werdenden Berufslebens mehrfach fortbilden. Daran seien die Arbeitgeber zunehmend interessiert, sagt die Psychologin Ursula Staudinger:

    "Nicht im Sinne auf der Karriere- und Hierarchieleiter unbedingt nach oben, sondern auch im Sinne von so genannten horizontalen Karrieren, also mit ihnen überlegen und beraten, welche anderen Kompetenzen und Fähigkeiten sie haben und sie explorieren möchten. Denn wir stellen fest, dass der Mensch an für sich nicht dafür gemacht ist, sei es 20, sei es 30, sei es 40 Jahre, die gleiche Tätigkeit auszuüben. Da kommt einem der Spaß abhanden, da verliert man die körperliche Kraft und auch die geistige Kraft, weil Routine und Abnutzung dann im Vordergrund stehen."

    Der demografische Wandel wird sich nicht nur auf das Lernen und Arbeiten auswirken. Auch beim Wohnen prognostiziert der Berliner Architekt Eckhard Feddersen große Veränderungen – vom Städtebau bis hin zur Türklinke:

    "Im Städtebau wird sich ändern, dass wir wieder kleinere Wege als die Dimension unseres Lebens erkennen, dass wir nämlich laufen, und vielleicht langsam laufen oder mit dem Rollator laufen. Und dass wir trotzdem in der Stadt dann alles erreichen wollen, was wir brauchen. Wir wollen einkaufen gehen, wir wollen Freizeitvergnügen haben, wir wollen ins Theater gehen, wir wollen beispielsweise alle Ämter erreichen können."

    In zehn Jahren müssen etwa 2,1 Millionen alterstaugliche Wohnungen zur Verfügung stehen, erklärt Feddersen. Rund 500.000 seien bislang entsprechend umgebaut worden. Sie sollten möglichst in der Nähe von Geschäften und öffentlicher Verkehrsinfrastruktur liegen. Denn in 20 Jahren, davon ist der Architekt überzeugt, können Menschen mit körperlichen Gebrechen gut zu Hause ambulant betreut werden. Die Pflegeheime werden sich auf Menschen mit Demenz konzentrieren.

    Feddersen hat sich mit seinem Büro auf das Bauen und Umbauen für Menschen aller Altersklassen spezialisiert. Im Sinne des "Universal Design" sollen die Häuser und Wohnungen für alle nutzbar sein – etwa durch ein größeres Bad, eine höhengleiche Dusche oder einen heruntergesetzten Spiegel. Denn eines gelte es zu vermeiden: dass Menschen durch ihr Alter auseinanderdividiert werden.

    "Wir müssen gemischte Häuser haben, und insofern finde ich sogar den Begriff Generationenwohnen oder die Förderung des Generationenwohnens eigentlich ein Schritt in die falsche Richtung. Wir sollten sehen, dass die besten Häuser unsere ganz normalen Mietshäuser sind, die sich über die Jahrzehnte alle wunderschön, individuell jedes Haus für sich entwickelt haben, dass man nicht sagen kann, ob da ein älterer oder ein jüngerer Mensch wohnt. Das ist die Normalität."

    Zur Normalität ist der demografische Wandel allerdings noch nicht geworden. Dass Männer und Frauen heute durchschnittlich 80 Jahre alt werden und damit doppelt so alt wie vor 130 Jahren, sei in den Köpfen noch nicht angekommen, sagt Ursula Staudinger. Zu viele Mythen kursieren, etwa dass längeres Leben mehr Krankheit bedeutet. Zu wenig verbreitet ist in der Gesellschaft das Wissen, dass man durch körperliches Training auch die Hirnalterung verlangsamen könne.

    "Es braucht aber auch sukzessive ein Umdenken bei jedem Einzelnen, sich Gedanken darüber zu machen, wie er dieses länger gewordene Leben nutzen möchte. Denn daraus kann dann diese Motivation entstehen. Also, wenn wir uns klar darüber werden, dass uns dieses längere Leben nicht etwa hauptsächlich Demenz und Pflegebedürftigkeit bringt, was es im Moment in den Schlagzeilen immer wieder ist, wenn es um den demografischen Wandel geht. Sondern wie wir aus der Epidemiologie wissen, ein Mehr an gesunden Jahren, dass wir dann auch Zutrauen gewinnen, zu diesem längeren, unserem längeren Leben und sagen: Ach, dann hab ich ja die und die Möglichkeit. Wie kann ich das angehen?"