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Chancengleichheit für Mädchen
Schweden auf Platz eins, aber noch nicht am Ziel

Die Menschenrechtsorganisation Save the Children hat kürzlich untersucht, in welchen Ländern Mädchen die besten Chancen haben. Platz eins ging eindeutig an Schweden. Doch nicht überall im Land sind Frauen mit der aktuellen Situation zufrieden.

Von Karsten Schmiester | 25.10.2016
    Zwei Schulkinder bei den Hausaufgaben.
    Schweden ist zwar kein Paradies für Mädchen, aber doch so ziemlich das Beste, was es zurzeit gibt, sagt Professorin Kristina Fjelkestam. (dpa/ picture alliance/ Richard Linke)
    Hat sich die jahrzehntelange politische und gesellschaftliche Arbeit gelohnt, dürften sich viele Schweden gedacht haben, als Save the Children den Bericht über die weltweiten Lebensbedingungen und Entwicklungschancen von Mädchen veröffentlichte. Platz Eins, na bitte! Gleichstellungsministerin Åsa Regnér hatte es ja schon vorher gewusst, auch wenn sie bei aller Zufriedenheit ganz schwedisch bescheiden blieb:
    "Es ist bei der Gleichberechtigung schon einiges gut gelaufen in Schweden. Aber es gibt noch viel zu tun, im Ausland und hier."
    Dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet
    Immerhin, nach den Kriterien der Kinderrechtsorganisation liegt ihr Land ganz vorne im weltweiten Vergleich. Was bei Kriterien wie "Müttersterblichkeit", "Zwangsehen" oder "Fruchtbarkeit Erwachsener" auch nicht wirklich wundert. Das staatliche schwedische Gesundheitssystem ist - okay, das Bildungssystem auch und die Gesellschaft? Egalitär, heißt es, und meint in der Praxis: dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet. Aber hier wird es dann doch problematisch. Ja, da ist viel Licht im Land des langen Winters, aber eben auch Schatten.
    "Es gibt noch immer Gehaltsunterschiede. Bei gleicher Arbeit von Frau und Mann, da sind diese Unterschiede hier nicht so erheblich. Aber bei männer- oder frauenspezifischen Berufen, da sind sie deutlich größer."
    Und das, obwohl sich die seit zwei Jahren amtierende rot-grüne Minderheitsregierung selbst als "erste feministische Regierung der Welt" bezeichnet und Besserung nicht nur versprochen hat. Schwedische Städte und Gemeinden haben für sich den Trend gedreht: Dort sitzen immer mehr Frauen auf Chefsesseln und verdienen sogar mehr als Männer. Staffan Isling ist Vorsitzender der Vereinigung schwedischer Führungskräfte in öffentlichen Unternehmen. Er beschreibt die Entwicklung:
    "In den vergangenen Jahren sind immer mehr Frauen auf diese Topjobs gekommen. Und das ist ja auch logisch. Etwa 70 Prozent aller öffentlichen Mitarbeiter sind weiblich."
    Ausgezeichnete Arbeitsbedingungen und Karrierechancen für Frauen
    Inzwischen sind landesweit etwa 30 Prozent dieser Positionen weiblich besetzt. Nein, keine 50, aber drei Mal so viel wie noch vor 20 Jahren. Frau ist also in Schweden noch nicht ganz am Ziel, ihm aber näher als anderswo. Sagt unter anderem die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Danach bietet Schweden neben Norwegen und Finnland Frauen die weltweit besten Arbeitsbedingungen und Karrierechancen, Tendenz weiter positiv, auch dank der "ersten feministischen Regierung der Welt". Auch aber dank wichtiger Grundeinstellungen in der schwedischen Gesellschaft, meint Professor Kristina Fjelkestam. Sie beschäftigt sich mit Geschlechterstudien und findet, dass die fünf Kriterien von Save The Children eigentlich nicht ausreichen, um Lebens- und Entwicklungsperspektiven von Mädchen weltweit vergleichen und beurteilen zu können. Da gibt es noch mehr:
    "Anerkennung, die ist von ganz zentraler Bedeutung, wenn sich Mädchen in einer Gesellschaft gut entwickeln sollen. Sie müssen wissen, dass sie tun und werden können, was sie wollen. Nicht nur die Jungs. Es geht also auch um den kulturellen Status."
    Für sie ist es nicht genug, nach Unterdrückungsmechanismen wie Zwangsehen zu schauen, Bildungssysteme grob zu beurteilen oder die Qualität medizinischer Grundversorgung. Und auch der Anteil von weiblichen Abgeordneten in einem Parlament macht noch keinen Musterstaat, sagt sie. Die Sache ist komplizierter:
    "Es ist nicht allein die Frage nach dem Geschlecht, die darüber entscheidet, ob Mädchen Möglichkeiten haben oder nicht. Das hat auch mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Volksgruppe zu tun und mit sexueller Selbstbestimmung. Beispiele, die zeigen: Es ist nicht so einfach, wie der Bericht suggeriert."
    "Einiges geschafft, das unsere Top-Platzierung rechtfertigt"
    Was nach Fjelkestams Überzeugung die guten Werte von Schweden erklärt. Denn hier gebe es keine Klassengesellschaft oder benachteiligte ethnische Gruppen. Dafür aber auf Selbstbestimmung ausgerichteten Sexualunterricht und ganz aktuell eine breite öffentliche Diskussion über sexistische Übergriffe etwa bei Musikfestivals, die den betroffenen meist jungen Mädchen das ganz klare Signal gegeben hat: Ihr seid nicht etwa selbst schuld, sondern ihr seid Opfer männlicher Gewalt. Punkt!
    Das macht stark, meint die Professorin. Und am Ende kommt auch sie zu einer - verhalten – positiven Beurteilung ihres Landes. Schweden ist zwar kein Paradies für Mädchen, aber doch so ziemlich das Beste, was es zurzeit gibt...
    "Nein, wir haben noch nicht alle Ziele der Gleichberechtigung erreicht. Aber doch Einiges geschafft, das unsere Top-Platzierung rechtfertigt!"