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Chaos und Ordnung

Nicolas Dickner ist mit seinem Debütroman "Nikolski" ein Überraschungserfolg in seinem Heimatland Kanada gelungen. Die drei schrulligen Hauptpersonen sind auf der Suche nach ihrer Identität - ein Thema, das man mit der kanadischen Literatur ohnehin gerne verbindet.

Von Anja Hirsch | 29.07.2009
    Zugemüllte Zimmer könnte man annehmen, geben Einblick in die ungeordnete Seele ihrer Bewohner. Deren Unvermögen, sich von Dingen zu trennen, mag Folge einer frühkindlichen Störung sein. Doch wie ist das nun genau: Ziehen "Messies" die Gegenstände magisch an? Oder ziehen die Gegenstände umgekehrt ihre Besitzer an? Tatsache ist, dass in zugemüllten Zimmern merkwürdig unsichtbare Kräfte walten. Und es durchaus hilfreich wäre, das Chaos wenigstens zu kartografieren. Diese Gedankengänge um Chaos und Ordnung führen ins Zentrum eines sehr ungewöhnlichen Romans.

    Meeresgeruch liegt in dem einen Zimmer mit Bad. Auf dem Küchentresen türmen sich die Reste der zuletzt bereiteten Speisen: gegrillter Fisch, pochierter Fisch, Fischsuppe und Krabbenchips. Die Gegend um das Spülbecken quillt über vor schmutzigem Geschirr, verschmierten Gläsern, verkrusteten Töpfen. Der Rest des Raumes steht diesem Durcheinander in nichts nach, und Joyce bahnt sich ihren Weg mit kleinen Tritten gegen die Dinge, die den Boden bedecken.
    "Nikolski", der Überraschungserfolg des französischsprachigen Kanadiers Nicolas Dickner, zog in seiner Heimat vor allem jüngere Leser in Bann. Man sieht sie förmlich in ihren eigenen Provisorien sitzen, das Buch in der Hand und den Blick auf die kleinen Dinge, die sie um sich versammelt haben. Vielleicht stammen diese nicht gerade aus dem Müll wie jene von Joyce, die tagsüber unauffällig in einem Laden Fisch filetiert und nachts Container nach alten Computerteilen durchwühlt, um die Kadaver zu Hause auszuschlachten. Joyce hat Piratenahnen und setzt die Tradition mit einem gewissen Stolz fort - im Internet mit Kreditkartenschwindel. Nicolas Dickner platziert sie nicht zufällig zwischen diesen in Montréal gestrandeten Figuren: Joyce robbt durch die Produktionsviertel der Stadt, um mit dem Edelabfall das kapitalistische System zu unterwandern. Was ihr dabei hilft, sind Partisanentechniken: Genaue Kenntnisse über den Ort und die Methoden der Bewacher. Auch Noah, kaum angekommen nach 18 Jahren Reiseleben mit der Hippie-Mutter, kartographiert mit gleicher, fast zwanghafter Gründlichkeit sein neues Wohnviertel:

    Vom Lenker seines Fahrrads aus erstellt er ein Luftbild der Gegend - Plätze, Gassen, Wände, Graffitis, Schulhöfe, Treppen, Kaufhallen und Imbiss-Restaurants -, im Gespräch mit seinen Kunden erforscht er die Akzente, die Kleider, die morphologischen Merkmale, die Küchendüfte und jeden Fetzen Musik.
    Man ginge nicht zu weit, Dickners Blick auf die Welt als subversiv zu bezeichnen. Eben das macht den Charme dieses Romans aus. In ihm wuchert und wächst die Nachgeschichte eines landkranken Matrosen, der im kanadischen Nirgendwo zwischen Nadelwäldern Noah und den Ich-Erzähler eher im Vorübergehen zeugte und längst verschollen scheint. Joyce, die Großstadtpartisanin, ist die Nichte des Matrosen. Von ihrer Verwandtschaft wissen die drei aber nichts. Dickner lässt sie in Montréal umeinanderkreisen wie Einzelplaneten, die manchmal ihre Bahn verlassen, einander begegnen, sich dann aber wieder ausrichten nach dem Esprit der Vorfahren - Getriebene, wo immer sie verweilen. Der Reiz dieser sprudelnden, agilen Prosa liegt im erdkundlichen Erfassen des Lebens:

    Er versucht, seine Beobachtungen auf eine Montréaler Straßenkarte zu übertragen, jedoch reichen zwei Dimensionen nicht aus. Es bräuchte eher ein Mobile, ein Mikadospiel, einen Satz Matroschkas, oder am besten ineinander verschachtelte Modellbauten. Zum ersten Mal in seinem Leben beginnt Noah, sich zu Hause zu fühlen.
    "Nikolski", benannt nach dem zurückgelassenen Kompass des Matrosen, der immer knapp an Norden vorbei geradewegs auf den kleinen, hinter Alaska gelegenen Aleuten-Ort "Nikolski" zeigt, lebt vom archäologischen Wühlen seiner drei Lebenserkundler, von Einzelheiten über Fische und Vorfahren, kurz: von den kleinen Nebengeschichten und Widerhaken. Die Verwandtschaftsgrade der drei Hauptfiguren baut Dickner zu unserem Glück nicht zum Enthüllungsroman aus. Er beschreibt vielmehr das magnetische Feld, in dem sie strudeln und kuriose Lebenstechniken erlernen - etwa als Buchhändler eines verstaubten Antiquariats:

    Seit mittlerweile vier Jahren widme ich alle meine freie Zeit der Psychoanalyse dieses erstaunlichen Ortes, ein Unterfangen, das sich in Wahrheit darauf beschränkt, mir einen Weg durch die verschiedenen Schichten gepressten Papiers zu bahnen.
    Dickner kommt ganz ohne die pathetische Beschreibung innerer Befindlichkeiten aus, um das Ringen seiner jungen Figuren um Identität zu beschreiben - ein Thema, das man mit der kanadischen Literatur ohnehin gerne verbindet. Und ganz selbstverständlich toben auch hier im Hintergrund Gebietskämpfe der Inuit. Weit, bis nach Venezuela reichen die Wurzeln eines Personals, das sich keineswegs nur über die von ihnen bewohnten Quadratkilometer erschließt, sondern dem Puls der Ahnen folgt. Chaos und Ordnung bilden in diesem exotischen Arrangement die heimlichen Pole, zwischen denen nach Umbrüchen ein neuer Alltag bewältigt werden will. Wirkt alles zu Beginn noch überflutet von biografischen Wendungen und scheinbar überflüssigen Informationen, flicht sich am Ende alles zu einem geheimnisvoll kreiselnden Strom, in dem neben seinen drei kuriosen Hauptdarstellern auch ein sogenanntes "dreiköpfiges Buch" eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt.

    "Nikolski" dreht leicht irre, etwas diskursiv und sehr verspielt um eine unbestimmbare Mitte - solange, bis alle wissen, dass sie ihre Zimmer wieder verlassen müssen. Sie könnten sonst festwachsen und zwischen den Gegenständen verschwinden.

    "Nikolski" heißt das Debüt des kanadischen Autors Nicolas Dickner, den Andreas Jandl aus dem Französischen übersetzte. Der Roman ist in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen, hat 302 Seiten und kostet 19,90 Euro.