Kritik der Expertokratie

Gefährdet die Macht des Wissens die Demokratie?

38:32 Minuten
Illustration eines Wissenschaftlers, der die Erdkugel mit seinen Händen über dem Kopf hält.
Zu viel Expertenwissen kann demokratische Prozesse gefährden, warnt der Soziologe Alexander Bogner. © imago / Science Photo Library
Alexander Bogner im Gespräch mit Stephanie Rohde · 16.05.2021
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Ob Klima oder Corona: Unwissen gefährdet die Demokratie – so heißt es. Der Soziologe Alexander Bogner sieht die größere Gefahr in der Macht wissenschaftlicher Expertise. Denn die überlagere den Streit um Interessen und Werte.
Selten waren Expertinnen und Experten wohl so präsent in einer Demokratie wie heute, in Zeiten der Coronapandemie und der Klimakrise: Viele Debatten drehen sich darum, wer die besten Fakten und Erkenntnisse hat. Und genau darin liegt ein Problem, meint der Wissenssoziologe Alexander Bogner in seinem neuen Buch "Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet". Seiner Meinung nach wird zu viel darüber gestritten, was man wissen kann, und zu wenig darüber, was man tun sollte oder wie man leben möchte.

Politik nach Expertinnen-Empfehlung

"Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Macht des Nichtwissens die Demokratie gefährdet", sagt Bogner. "Und ich behaupte, dass auch die Macht des Wissens demokratiegefährdend sein kann, nämlich dann, wenn Politik nicht mehr darin besteht, Meinungen, Interessen und Werte auszutarieren, sondern wenn sie sich darauf beschränkt, dem einhelligen Rat der Expertinnen und Experten zu folgen."
In einer akuten Notsituation sei dies zwar gerechtfertigt, etwa im Falle eines Tornados – die Coronapandemie aber sei längst zu einer "chronischen Krise" geworden. Zwar seien auch während der Pandemie immer wieder politische Fragen und Werte diskutiert worden, diese würden aber "überformt durch Bezug auf wissenschaftliche Expertise, auf Studien, Modelle, Szenarien."

Legitimation durch Wahrheit statt durch Kompromiss

Ein Beispiel dafür, wie diese Tendenz von Teilen der wissenschaftlichen Community selbst geschürt worden sei, sieht Bogner in der Stellungnahme der Akademie für Wissenschaften Leopoldina: Über 30 Expertinnen und Experten hatten diese vor Weihnachten "einstimmig" verfasst und damit, wie Bogner betont, "genau das nicht mehr gemacht, was wissenschaftliche Expertise auszeichnet, nämlich in Optionen zu denken und der Politik dementsprechend Handlungsalternativen anzubieten. Stattdessen hat man aktivistisch agiert, hat gesagt, es ist jetzt an der Zeit, dass die Politik umsetzt, was wir ausverhandelt haben. Und das ist nicht eine Form der Wissenspolitik, die kompatibel ist mit einem offenen, demokratischen Prozess."
Porträt von Alexander Bogner, vor einem hellblauen Hintergrund.
Alexander Bogner ist Professor für Soziologe an der Universität Innsbruck.© Universität Innsbruck
Dabei legt Bogner Wert darauf, dass er nicht gegen wissenschaftliche Expertise per se argumentiere, sondern gegen deren politische Verabsolutierung: "Wenn der Eindruck entsteht, in der wissenschaftlichen Erkenntnis an sich steckt schon ein politisches Handlungsprogramm, dann tritt an die Stelle demokratischer Legitimation die Legitimation durch Wahrheit. Und das ist natürlich ein Problem, weil die Politik hat nicht Wahrheiten zu exekutieren, sondern sie hat, unter Berücksichtigung eines möglichst breiten Meinungsspektrums, dafür zu sorgen, dass es zu abgewogenen, klugen Kompromissen kommt."

Gefährlicher als Verschwörungstheorien

In Bogners Augen ist die Gefahr dieser politischen "Fokussierung auf Wissensangelegenheiten" sogar größer als die durch Desinformation und Verschwörungstheorien, in denen er eher "Randphänomene" erblickt.
Zudem hätten die Verschwörungstheorien sogar – wenn auch unfreiwillig und indirekt – einen gewissen Nutzen: Denn indem sie vordergründig selbst überlegenes Wissen für sich in Anspruch nähmen, tatsächlich aber ein völlig anderes Weltbild propagierten, würden sie "daran erinnern, dass es im Rahmen politischer Konflikte in letzter Instanz um Wertentscheidungen, Interessen, Weltbilder gehen muss."
Daran müsste sich auch die Auseinandersetzung mit ihnen orientieren: Indem man "die starke Fokussierung auf wissenschaftliche Expertise und so weiter verlässt und – natürlich wissenschaftlich informiert – aber sehr stark Bezug nehmend auf Interessen, Werte, Weltbilder eine offene normative Debatte führt."

Repolitisierung durch Bürgerräte

Wie aber lässt sich die Debatte gegenüber dieser Vorrangstellung von Wahrheitsfragen und Expertinnenwissen repolitisieren? Bogners Antwort erscheint auf den ersten Blick widersprüchlich: Auf "bessere Expertise" müsse man setzen. Damit meint er jedoch gerade keine Verengung auf naturwissenschaftliche Expertise, sondern eine Verbreiterung und Vervielfältigung der "Politikberatung" auf mehreren Ebenen.
So müsste im Falle einer Krisensituation wie zu Beginn der Coronapandemie die "virologische Taskforce" durch ein weiteres Gremium ergänzt werden, in dem dann Disziplinen wie Psychologie, Ökonomie, Soziologie oder Bildungsforschung "auch die grundlegende Frage nach der Verhältnismäßigkeit der politischen Maßnahmen aufgreifen und damit Wertedebatten ankurbeln". Daneben gelte es, "Alltagserfahrungen" zu berücksichtigen, etwa durch Instanzen wie "Bürgerräte": "Dass man es schafft, die Empfehlungen der Experte noch einmal zu spiegeln an den Erfahrungen und Einschätzungen der Leute."

Ohne gemeinsame Wahrheit geht es nicht

Fest steht für Bogner allerdings auch, dass es dabei eine "gemeinsame Wahrheitsgrundlage" braucht, denn nur auf der Basis von Gemeinsamkeiten könne man überhaupt sinnvoll miteinander streiten. Eine solche "Wahrheitsidee" bestünde Bogner zufolge darin, "dass wir natürlich im gemeinsamen Weltbild der Wissenschaft operieren, dass wir uns über gewisse Fakten, die außer Frage stehen, verständigen". Allerdings dürfe diese gemeinsame Wahrheit dann nicht davon abhalten, "grundlegende Wertedebatten zu führen".
(ch)

Alexander Bogner: "Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet"
Reclam Verlag, Stuttgart 2021
143 Seiten, 12 Euro

In dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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