Donnerstag, 28. März 2024

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Charlie Chaplin
Geistesgegenwart und Fantasie als Überlebensstrategie

Wenn ihn der Blick des Gegners trifft, zieht er den Hut. Wenn es gefährlich wird, rennt er davon. Der kleine Mann wehrt sich mit nichts als seinem Witz, seinem Mut und seiner Schläue gegen die Mächtigen. Damit erfüllt Charlie Chaplin die Sehnsucht nach Umkehr der gesellschaftlichen Ordnung, von der alle Komik lebt.

Von Renate Jurzik | 10.04.2016
    Undatierte Aufnahme des englischen Schauspielers, Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Charlie Chaplin als "Tramp".
    Undatierte Aufnahme des englischen Schauspielers, Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Charlie Chaplin als "Tramp". (picture alliance / dpa / UPI)
    Als ich mich vor Jahren mit dem Stoff des Lachens befasste, war Chaplin nicht mein Lieblingskomiker, sondern Buster Keaton, dessen Verlorenheit mir charakteristischer schien für die moderne Zivilisation und ihre Zumutungen. Ein Held, der den Umgangsformen einer verdinglichten Massengesellschaft mit seinem unbewegten Gesicht begegnet, dem jede Spontaneität, die Zumutungen der Welt zu unterlaufen, fehlt.
    Ganz anders Chaplin. Der Tramp, den er kreierte, scheint eine Figur aus dem vorvorigen Jahrhundert, die einem Roman von Dickens entsprungen sein könnte. Mit seinem kindlichen Sadismus, seinem Protest, der von Wünschen beflügelt ist, verkörpert er das Gegenteil von Buster Keaton. Er ist ein Trickser im Bunde mit magischen Kräften - von einer Unbesiegbarkeit, die mir märchenhaft schien. Von unangefochtener Faszination aber ist die Geistesgegenwart und die Imaginationskraft, die seines Helden in den Katastrophen des Alltags und die des Künstlers angesichts der Katastrophen seiner Zeit.
    Von der Geistesgegenwart des Charlie Chaplin also: Wie kann man sie besser begreifen, als sich Szenen seiner Filme ins Gedächtnis zu rufen. Beginnen wir mit der Anfangsszene aus dem Film "The Adventurer" von 1917. Charlie ist gerade aus dem Gefängnis entkommen und flieht vor den Polizisten. Längst hat er sie auf staubigem Gelände hinter sich gelassen. Statt seinen Vorsprung mit Erleichterung zu genießen, wird er übermütig, bewirft sie mit Steinen und vergewissert sich schadenfroh, dass seine Steine auch treffen. Wir lachen - eins mit unserem Helden - über diesen kindlichen Sadismus, aber wir sind schon einen Schritt weiter. Wir sehen bereits den Polizisten, der hinter ihm steht und ihn bei seinem frechen Treiben beobachtet. Und wir warten auf den Moment, in dem Charlie dies auch bemerken wird. Als Charlie endlich den Stiefel des Polizisten erblickt, deckt er ihn mit einer raschen Handbewegung mit Sand zu, stellvertretend für den ganzen Mann, als könnte er ihn so zum Verschwinden bringen.
    Lachen über die Unzulänglichkeit der kindlichen Reaktion
    Wir lachen über die Unzulänglichkeit seiner kindlichen Reaktion, werden aber sofort eines Besseren belehrt. Sein Verfolger ist - wie auch wir - von dieser Reaktion überrascht. Und so nutzt Charlie den kurzen Moment der Verblüffung, um wegzurennen. Er ist schlagfertig, nicht mit Worten, sondern im Handeln. Am Ende rettet er sich mit einem Sprung ins Wasser. Wir lachen nicht nur, weil er durch diesen Trick entkommt, sondern weil wir in den Abgrund solch kurzfristiger Katastrophenverarbeitung blicken.
    Für den Moment darf Charlie triumphieren. Rettungsunternehmen dieser Art finden sich viele in Chaplins Filmen. Auf diese Momente hin sind sie inszeniert. Und immer ist es nicht bloß der Zufall, der Charlie rettet, sondern seine unglaubliche Geistesgegenwart im Augenblick des Schrecks.
    Während Buster Keaton unendliche Anstrengungen auf sich nehmen muss, um ans Ziel zu gelangen, erspart sich Charlie die Anstrengung und wählt den kürzesten Weg, indem er jede sich bietende Gelegenheit beim Schopfe packt; sei es seinem Hunger abzuhelfen, einen Flirt anzufangen oder einem Widersacher eins auszuwischen.
    Frei von jeglicher moralischen Hemmung fügt er seinem Gegner Niederlagen zu und kostet sie genussvoll aus. Er greift an, wenn der Gegner gerade wegsieht. Wenn ihn der Blick des Gegners trifft, zieht er den Hut. Wenn es gefährlich wird, rennt er davon. Dafür, dass sich der kleine Mann mit nichts als seinem Witz, seinem Mut und seiner Schläue gegen die Mächtigen wehrt - Polizisten und andere Ordnungshüter -, erfüllt er die Sehnsucht nach Umkehr der gesellschaftlichen Ordnung, von der alle Komik lebt.
    Lassen wir den Film "The Adventurer" ein paar Bilder weiterlaufen. Als Charlie außer Reichweite seiner Verfolger aus dem Wasser steigt, hört er Hilfeschreie einer Ertrinkenden. Charlie springt sofort ins Wasser zurück. Als er erkennt, wie alt die Ertrinkende ist, überlässt er sie ihrem Schicksal, um sich dem nächsten Opfer zuzuwenden, nachdem er sich vergewissert hat, dass sich bei ihr die Rettung lohnt. Erst dann kümmert er sich um ihre Mutter, schließlich zieht er auch noch den Ehemann aus dem Wasser, den er dann versehentlich wieder ins Wasser fallen lässt und am Ende muss Charlie selbst gerettet werden.
    MODERNE ZEITEN, USA 1936, ist einer der großen Klassiker der Filmgeschichte, in dem der vermeintlich moderne Arbeitsalltag, die Maschine über den Menschen stellt. Szene: Durch die Monotonie seiner Arbeit wird Charlie (CHARLIE CHAPLIN) in den Wahnsinn getrieben.
    Schon Charlie Chaplin beschäftigte sich im Jahr 1936 kritisch mit dem effizienten Arbeitsalltag in "Moderne Zeiten". ( imago/United Archives)
    Als er schließlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, liegt er in einem Bett mit gestreiftem Schlafanzug, der einem Sträflingsanzug gleicht. Verwundert gleitet sein Blick über den Pyjama, die Gitterstäbe des Bettes, wir erraten, er wähnt sich zurück im Gefängnis. Da kommt ein Diener mit Wäsche herein. Mit einem Schulterzucken schüttelt er den Albtraum ab, um den feinen Herrn zu mimen, dem eine zuvorkommende Behandlung zusteht. Die raschen Wechsel, die die sozialen Machtverhältnisse von einem zum anderen Moment umstürzen, bringen uns zum Lachen, ohne dass wir begreifen, wie uns geschieht.
    Chaplin hat den Lachdialog mit dem Publikum in einem seiner frühen Filme reflektiert.
    "The Circus". Der Zirkusdirektor will Charlie als Clown engagieren, aber weil er nicht lustig findet, was Charlie als Komik anbietet, - nämlich verschiedenste lächerliche Gangarten - lässt er seine Clowns eine Szene aus ihrem Repertoire vorspielen, die Charlie nachahmen soll: beim Barbier.
    Charlie kippt fast vom Stuhl vor Lachen, als die Clowns sich gegenseitig mit großen Pinseln den Rasierschaum eimerweise ins Gesicht klatschen. Der Theaterdirektor wirft ihm einen bösen Blick zu. Charlie soll die Szene gleich nachspielen, aber er verpatzt den Gag. Jedes Mal, wenn der Barbier ausholt, um ihm den Pinsel übers Gesicht zu schmieren, weicht er zurück. Er ist untauglich für die Rolle des Clowns.
    Lachen über den Widerstand gegen die Demütigung
    Wir lachen nicht nur über seinen Widerstand, sich die Demütigung, die die Rolle vorsieht, gefallen zu lassen. Die Szene klärt uns gleichzeitig über die Rolle des komischen Helden auf - eine Aufklärung nicht mit Worten, sondern als darstellende Erkenntnis. Was Charlie als Zuschauer lustig fand, findet er nicht mehr lustig, wenn es an ihm selbst exekutiert wird. Der fundamentale Seitenwechsel, der von ihm verlangt wird, führt das Spiel der Affekte vor. Komödiant und Zuschauer sind Gegenspieler.
    Damit wir lachen, muss der Clown sich selbst zum Opfer machen. Er nimmt die Demütigungen auf sich, damit wir uns lachend davon befreien, ohne dass wir diesen Mechanismus durchschauen. Die Katharsis, in der Tragödie durch Furcht und Mitleid erzeugt, erfolgt in der Komik durch ständige Umkehr der Affekte. Wo das Publikum in einem Augenblick mit der komischen Person mitleidet, sich mit ihr identifiziert, durchbricht es im nächsten Moment diese Identifikation und spielt mit ihr Schicksal. Mitgefühl und Sadismus wechseln schneller als man denken kann.
    Komik beruht auf einem Rollentausch. In der griechischen Komödie durften sich die Zuschauer so fühlen wie die Götter, die vom Olymp aus den Menschen zuschauten, wie sie sich im Kampf gegeneinander abzappelten und darüber selbst in Streit gerieten.
    Hierzu eine Szene aus "The Kid", die die olympische Perspektive des Publikums veranschaulicht. Charlie repariert eine Fensterscheibe, die das Kind - von Charlie instruiert - zuvor eingeworfen hat, um anschließend mit der Frau zu flirten, die ihn - nichts ahnend - für seine Arbeit bezahlt.
    Während er also mit ihr vor der reparierten Scheibe steht und scherzt, sehen wir den Ehemann nach Hause kommen. Wir sehen ihn, wie er die beiden beim Flirt beobachtet und warten darauf, dass er Charlie gleich eine Abreibung erteilen wird. Zu unserer Erbauung ist er der Polizist, der Charlie bei seinem verdächtigen Treiben im Visier hatte.
    Schließlich sieht man den Tramp und das Kind Hand in Hand nach Hause gehen, während der Polizist ihnen argwöhnisch folgt. Er kombiniert gerade verschiedene Beobachtungen, die er vorher gemacht hat und begreift in diesem Moment den Zusammenhang: das Kind mit einem Stein in der Hand, eine zerschlagene Scheibe, Charlie, der die Scheibe repariert.
    Charlie ahnt, dass der Polizist sie besser nicht zusammen sieht und verpasst dem Kind Fußtritte, um es wegzujagen, eine Geste, die das Kind zunächst nicht versteht, sondern erst als es sich umdreht und ebenfalls den Polizisten sieht.
    Die Spannung löst sich in einer Verfolgungsjagd. Erst rennt das Kind, dann Charlie, dann der Polizist. Wir erraten gleichzeitig - rein filmisch dargestellt - die Gedanken aller Beteiligten, die in je unterschiedlichen Zeittakten das Ganze der Situation begreifen. Ihren Reiz bezieht die Situation aus der Differenz des Denkens der Protagonisten zu unserem Wissen. Wir als Zuschauer sind amüsiert, weil wir alle durchschauen und aus der Distanz, die uns dieses Wissen verschafft, das größte Vergnügen ziehen.
    Wie bewirkt die Komik - wie viele Worte, die auf -ik enden, bezeichnet sie eine Technik - dass wir über Missgeschicke lachen und uns dabei gut fühlen? Für den Kippmoment der Affekte ist der Gag zuständig. Aber wie die Pointe nicht der Höhepunkt des Witzes ist, sondern nur das Bestechungsgeld, um die Kontrollinstanzen zu entwaffnen, damit dem Verpönten - der Aggression, der verbotenen Lust - einen Moment lang zum Durchbruch verholfen wird, so ist der Gag nicht der Höhepunkt der komischen Situation, sondern die Katastrophenlust, die der Komiker heraufbeschwört.
    Ausagieren der Katastrophen
    Wir vergessen die Witze schnell, nicht aber das Lachen, wir vergessen die komischen Tricks, nicht aber die Katastrophen, in denen der komische Held sich abzappelt. Komik lebt nicht nur - wie der Witz - vom kurzen Moment der Revision des Verdrängten, sondern vom Ausagieren der Katastrophen.
    Der Komödiant muss ein Gespür für die Bedrohungen und Ängste seiner Zeit haben. Wo es gelingt, in kleinen Szenen die großen Katastrophen anzuspielen, ist Komik brisant.
    Insofern Komik darstellende Erkenntnis ist, distanziert sie sich von den Katastrophen. Wir müssen uns nicht mit der Angst - wie in der Tragödie - identifizieren, sondern können uns lachend aus der Verantwortung ziehen. Ob das Lachen beim Ausagieren stehen bleibt oder ob es darüber hinaus Katastrophenverarbeitung leistet, ist die große Frage.
    Bilder, mit denen der Volksmund das Lachen beschreibt, "Sich-Kranklachen", "Platzen vor Lachen", "Beben vor Lachen" oder gar "Sich-Totlachen" weisen auf seine Gefährlichkeit hin. Theodor Reik hat die konvulsivische Bewegung des Lachens als Abzittern von Angst beschrieben, das uns aus der Erstarrung lösen soll, in die uns das Schicksal allzu oft zu versetzen droht.
    Die großen Komödianten auf dem Theater - Molière ist das berühmteste Beispiel hierfür - wie im Film - Buster Keaton, W.C. Fields, die Marx Brothers, Woody Allen - waren alle Autoren, Darsteller und Regisseure in einer Person. Der Komödiant scheint existenzieller mit seiner Rolle verbunden als jeder dramatische Schauspieler. Wenn er schon freiwillig die Opferrolle auf sich nimmt, so muss sie wenigsten in eigener Regie verantwortet sein. Heiner Müller hat diese Selbsthinrichtung des komischen Darstellers - aus eigener Erfahrung als Künstler - reflektiert:
    "Meine erste Erinnerung an Chaplin ist die Erinnerung an eine Irritation. Was mich anzog, war der Terror seiner kalten Schadenfreude auf der Rollschuhbahn oder am Fließband, was mich abstieß, das Obszöne seiner Komik in der Angst vor dem feindlichen Riesen. Ich mochte das nicht und ich mochte auch nicht, dass ich es nicht mochte. Wenn so viel zappelnde Selbstentblößung der Preis des Überlebens war, wollte ich wider mein besseres Wissen lieber Goliath sein. Ich wusste noch nicht und ich ahnte schon, dass man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will. Wir schießen alle aus der Hüfte. Und etwas ausrichten, heißt in der Kunst, etwas hinrichten, zuerst sich selber."
    Zuerst sich selber. Die Selbst-Hinrichtung trifft in der Tat das Wesen der Komik, sie ist das Herzstück der Kunst des Clowns. Aber indem der komische Held wider alle Regeln der Vernunft in den Katastrophen triumphiert, ermöglicht er uns, nicht ihn, sondern die Katastrophen auszulachen. Darin liegt die Befreiung.
    Schaffung unverwechselbarer Figuren
    Das Vergnügen an Chaplin und anderen großen Filmkomödianten liegt nicht nur im Einfallsreichtum ihrer Gags, sondern darin, dass sie unverwechselbare Figuren geschaffen haben. Keaton kreierte den Mann, der nie lachte, Chaplin den Tramp.
    Keatons Maske, sein unbewegtes Gesicht, ist im Lachdialog mit dem Publikum entstanden. Auf der Bühne machte Keaton die Erfahrung, dass die Zuschauer immer dann am meisten lachten, wenn er todernst blieb. Nur mit unbewegtem Gesicht hielt er dem Sadismus des Publikums stand. Chaplin erfand die Maske des Tramps eines Tages hinter den Kulissen.
    "Ich wusste nicht, wie ich mich schminken sollte. Als ich auf dem Weg zur Requisitenkammer war, kam mir jedoch die Idee, ausgebeulte Hosen, riesige Schuhe, einen Spazierstock und eine schwarze Melone als Kostüm zu wählen. Alles sollte einander widersprechen. Die Hose musste weit, die Jacke eng, der Hut klein, das Schuhwerk groß sein. Sobald ich das Kostüm am Leibe hatte, ließen mich Kleider und Schminke fühlen, was für ein Mensch das war. An ihm entzündeten sich alle möglichen verrückten Ideen, von denen ich niemals geträumt hatte, bevor ich geschminkt und als Tramp hergerichtet war."
    Warum brauchen komische Darsteller eine Maske? Die Maske verleiht dem Maskenträger eine Macht, die er sonst nicht hat. Die Maske des Tramps verleiht Chaplin die Freiheit, gesellschaftliche Regeln zu übertreten, ohne die Sympathie des Publikums zu verlieren. Trotz seines unzivilisierten Benehmens kann er gleichzeitig eine kindliche Unschuld bewahren.
    Der Tramp als komplexer Charakter
    Die Gesetze der Slapstickkomödien, die nach immer gleichem Muster abliefen, Verfolgungsjagden, die im Chaos endeten, empfand Chaplin bald als zu beschränkt. Sein Tramp sollte einen komplexeren Charakter erhalten. Seine Komödien sollten durch den "Zauber des Gefühls verschönt werden", wie Chaplin in seiner Autobiografie bekennt. In seinen frühen Filmen war Charlie kein romantischer Schwärmer. Seine Eroberungen waren hemmungslos, ohne Rücksicht auf die soziale Rangordung. Doch plötzlich ist er sich der Klassenunterschiede bewusst, seines abgerissenen Äußeren wegen gehemmt. Statt frecher Annäherungen versucht er, die Frauen mit höflichem Charme und guten Manieren zu gewinnen.
    "Es war natürlich schwierig, das Interesse des Mädchens an dem Tramp zu begründen", beschreibt Chaplin das Problem, das er sich damit eingehandelt hatte.
    Das Mädchen in "Citylights" ist blind. Für sie kann der Tramp nur so lange den reichen Verehrer spielen, bis sie das Augenlicht zurückgewinnt. Die erste Szene, aus der sich die ganze Geschichte entwickelt, ist ein Meisterwerk einer rein darstellerischen Filmerzählung.
    Sie musste zweierlei begreiflich machen: Dass das blinde Mädchen Charlie für einen reichen Herrn hält und dass Charlie diesen ihren Irrtum errät und geistesgegenwärtig darin die Chance erkennt, ihr in der Rolle des Verehrers nahe zu sein. Während das Mädchen dem Herrn nachsinnt, dem sie eben eine Blume verkauft hat - sie glaubt, er wäre mit dem Taxi davongefahren - setzt Charlie sich heimlich neben sie.
    Auch hier erraten wir alle Gedanken der beiden, ohne dass ein einziges Wort fällt. Kaum sind wir von der Szene angerührt, schüttet sie - die ihn nicht bemerkt - ihm das Blumenwasser ins Gesicht, er aber darf sich nicht verraten. Die Anfangsszene, in der er dem blinden Mädchen das erste Mal begegnet und die Schlussszene, in der sie - sehend geworden - die Wahrheit erfährt, zeigen seine ganze Kunst, das Wechselbad der Gefühle zu inszenieren.
    Das Mädchen in "The Goldrush" erlaubt sich einen Scherz mit dem Tramp, den er als echte Chance missversteht. Wie Charlie sich bemüht, seines abgerissenen Äußeren zum Trotz feine Sitten herauszukehren, die Angebetete zum Tanz auffordert, wobei er seine Hose zu verlieren droht und dennoch schwungvoller tanzt als alle anderen und schließlich die Damen mit höflicher Geste zu sich zum Dinner einlädt, ist von herzzerreißender Komik, zumal wir wissen, dass sie mit seinen Gefühlen spielen.
    Wie der Tramp in "The Goldrush" seinen Hunger stillt, indem er einen Schuh tranchiert und mit Genuss verspeist, als wäre er das köstlichste Huhn, dabei den Schnürsenkel geschickt um die Gabel wickelt, als hätte er einen Teller Spaghetti vor sich, ist komisch und poetisch zugleich. Wir lachen über diese Imagination und sind gleichzeitig gerührt, weil sie im krassen Widerspruch zum tatsächlichen Elend steht und doch nicht nur für den Protagonisten, sondern auch für den Zuschauer von vollendeter Suggestion ist.
    Überlebenskampf als Stoff für die Filme
    Der Überlebenskampf bildet auch in diesen Filmen den Katastrophenstoff, aber der Tramp besteht ihn nicht mehr durch hemmungslose Regelverletzungen, sondern mit einer unbesiegbaren Wunschkraft, die die Klassenschranken, die seine Armut ihm auferlegt, überflügelt. Das ganze Spektrum romantischer Gefühle wird in den kathartischen Prozess einbezogen. Die Poesie, die aus der "Verschönerung durch Gefühl" entspringt, hat allerdings einen Preis: Sie geht auf Kosten der anarchischen Befreiung.
    In "Modern Times" von 1936 hat Chaplin die anarchische Energie zurückgewonnen. Dieselbe Technik, die Instrument der Knechtschaft ist, nutzt er, um seine Gags daran zu heften. Mit den lachenden Augen eines bösen Kindes spielt Charlie an den teuflischen Hebeln herum, die die Maschinerie in Gang halten, befördert er den Vorarbeiter ebenfalls zwischen das Räderwerk, drangsaliert er die Arbeiter, mit denen er eben noch das Schicksal teilte, indem er das Band beschleunigt, während er - euphorisiert durch diesen Streich - einen grazilen Tanz vollführt; verfolgt er eine Frau mit der Schraubzange, weil ihn die Knöpfe ihrer Bluse an die Schrauben erinnern, die er am Band festzurren musste.
    In der unbefangenen Frechheit erkennt man den frühen Chaplin wieder, die kindliche sadistische Lust, ein Handeln, ganz aus dem Augenblick, widersprüchlich und anarchisch, frei von moralischen Fesseln.
    Während die Erfindung des Tonfilms für alle Stummfilmregisseure und Pantomimen einen Einschnitt darstellte, den die wenigstens von ihnen in ihrer Kunst gemeistert haben, gelang es Chaplin in dieser Zeit, noch zwei seiner erfolgreichsten Stummfilme zu drehen, "Citylights" und "Modern Times". Der Tonfilm war damals schon einige Jahre auf dem Markt. Danach sah auch Chaplin keine Chance mehr, als sich der neuen Technik zu stellen.
    Den Tramp hat er nicht in den Tonfilm gerettet. Wie hätte der Tramp auch sprechen sollen? Doch sicher nicht nur wegen dieser Schwierigkeit hat Chaplin sich vom Tramp verabschiedet, für den ihn Millionen liebten, jenseits von Klassenschranken und Systemkonkurrenzen. Chaplin hat in "The Great Dictator" die Konsequenz aus der Erfahrung gezogen, dass der Tramp zu harmlos war angesichts der politischen Katastrophe, die die Welt erschütterte.
    Hitler mit dem Mittel der Komik begegnen
    Der Autor Chaplin und der Darsteller nahmen die Herausforderung an, dieser Menschheitskatastrophe - einer nicht bereits ausgestandenen, sondern einer Katastrophe, die in vollem Gange war - mit den Mitteln der Komik zu begegnen. Als alle Welt gebannt auf den Schrecken schaute, der sich in Deutschland anbahnte, und die europäischen Politiker noch glaubten, man könne die Bedrohung abwenden, indem man mit Hitler einen Pakt schloss, wagte sich Chaplin daran, den Diktator dem Lachen preiszugeben.
    Chaplin - und das ist sein Genie - hat sich den großen Katastrophen der Zeit mit den Mitteln seiner Komik gestellt: der Armutswanderung in der Mitte des 19. Jahrhundert in "Goldrush", der industriellen Revolution in "Modern Times", dem Faschismus in "The Great Dictator", der Profitgier, die Krieg heraufbeschwor, in "Monsieur Verdoux", der Zensur der McCarthy-Ära in "A King in New York". All diese Filme erzählen ihre Geschichten des kleinen Mannes im Kampf gegen die Großen im Kontext großer gesellschaftlicher Umbrüche.
    Die Idee zu seiner Hitlerkarikatur lieferte ihm eine Postkartenserie, wie Chaplin uns in seiner Autobiografie verrät. Die Gestik von Hitler hat ihn in ihrer Lächerlichkeit sofort herausgefordert. 1938 begannen die Dreharbeiten, noch vor Ausbruch des Krieges. Im Oktober 1940 wurde "The Great Dictator" in New York uraufgeführt. Chaplin spielte beide Figuren, den Diktator Hynkel und den kleinen Mann in Gestalt des jüdischen Friseurs.
    Der große Diktator (1940), Regie, Produktion und Hauptrollen: Charlie Chaplin als Diktator Adenoid Hynkel, Diktator von Tomamia
    "Der große Diktator" (1940), Regie, Produktion und Hauptrollen: Charlie Chaplin als Diktator Adenoid Hynkel, Diktator von Tomamia (imago/United Archives)
    Die Komik in "The Great Dictator", Chaplins erstem Tonfilm, ist nicht im gesprochenen Wort zu suchen, sondern - darin bleibt Chaplin sich treu - in den stummen Szenen des Films. Die berühmteste Szene des Films, in der Hynkel mit der Weltkugel spielt, und diese dann zerplatzt, ist als Darstellung diktatorischen Größenwahns in die Filmgeschichte eingegangen. Die Szenen, in denen die Begegnung von Hitler und Mussolini karikiert wird, sind von beißendem Spott auf die Inszenierung der Macht und den Infantilismus des Größenwahns.
    Während Chaplin an "The Great Dictator" arbeitete, erhielt er viele Drohbriefe, nach der Fertigstellung häuften sie sich. Die meisten Kritiker machten ihm Vorwürfe wegen der Schlussrede. Auch in "Monsieur Verdoux" und in "A King in New York" gibt es solche Plädoyers der Menschlichkeit
    Hinrichtung der kindlichen Unschuld
    Ob Verbrecher oder Held, das ist eine Frage der Größenverhältnisse, sagt der Frauenmörder Verdoux und klagt zu seiner Verteidigung eine Gesellschaft an, deren Profitgier in Massenmord mündet. Im Schlussbild des Films sieht man Verdoux von hinten zwischen seinen Henkern: Er geht weg, wie man Charlie in vielen seiner Filme weggehen sah, aber sein Gang hat jeden Schwung verloren. Es ist Charlie, der Tramp, der hier hingerichtet wird, die kindliche Unschuld gibt es nicht mehr, das ist die Pointe des Films, ein Fingerzeig, den seine Kritiker nicht verstehen wollten.
    "Monsieur Verdoux" beschäftigte die amerikanischen Zensurbehörden. Die Pressekonferenz nach der Premiere des Films in New York 1947 geriet zu einem Verhör über Chaplins Verhältnis zum Kommunismus, zu Amerika. Vertreter des Staates, Filmkritiker wie das amerikanische Publikum reagierten mit Ärger. Dass er der Gesellschaft den Spiegel vorhält, hat sie ihm nicht gedankt.
    Das Ausagieren der Katastrophen verschiebt sich zugunsten der Katastrophenreflexion. Das Publikum war nicht willens, diese Reflexion anzunehmen und sich in diesem Spiegel wiederzuerkennen. Der Held taugt nicht mehr zur Befreiung, nicht zur Identifikation, nicht für die olympische Perspektive. Als Schauspieler, der ohne Maske agiert, wird er haftbar gemacht. Statt in der Rolle des Tramps den Zuschauer für erlittene soziale Ungerechtigkeit zu entschädigen, zeigt Chaplin in seinen Tonfilmen die Verlogenheit der Gesellschaft auf, sein Spott wird beißend, sein Humor satirisch, seine Helden zweideutig. Nicht mehr Pierrot, sondern Eulenspiegel, der den Menschen die Wahrheit über sie sagt, begegnet uns in diesen Filmen.
    In "Limelight", einer melancholischen Reflexion über den Beruf des Clowns, hat Chaplin dieses Trauma verarbeitet. Der Clown - alt, enttäuscht - sieht keinen Sinn mehr in seinem Metier. Er hat den Kontakt zu seinem Publikum verloren. Er bringt es nicht mehr zum Lachen. Am Ende der Vorführung stirbt der Clown in den Kulissen, um für eine andere stumme Kunst - die Kunst der Ballerina - die Bühne freizumachen. Der Clown hat seine Einspruchsmacht verloren. Das ist die resignative Botschaft des Films. "Limelight" ist der letzte Film, den Chaplin in Amerika gedreht hat.
    Der Tod des Clowns
    Er hat 1957 mit "A King in New York" dem Tod des Clowns noch eine letzte Komödie hinterhergeschickt, in der er selbst die Hauptrolle spielte: In diesem Film, seinem bittersten, spielt er sich die Resignation vom Leibe und rechnet mit dem Amerika der McCarthy-Ära, das ihn so schmählich verstoßen hatte, ab. Der Film spottet über die amerikanische Gesellschaft, die sich ganz dem Kommerz verschrieben hat, über ihre Unterhaltungs- und Werbeindustrie, über die Maskenhaftigkeit ihrer Schönheitsideale und vor allem über die Absurdität der Verfolgungen und Verdächtigungen.
    Der König gerät schließlich selbst in den Verdacht des Kommunismus. Die Schlussszene im Gerichtssaal, als er sich wegen kommunistischer Gesinnung verantworten soll, ist reinster Slapstick. Der ganze Saal, Personal und Mobiliar, werden mit einem gewaltigen Strahl aus dem Feuerwehrschlauch weggeschwemmt, eine symbolische Brandlöschung des geistigen Klimas der McCarthy-Ära. Da ist er wieder, Chaplin, der sich mit sadistischer Lust an seinen Peinigern rächt, diesmal von der sicheren Schweiz aus - auch er, ein König auf der Flucht.
    Dem Clown hat er in einer kurzen Passage des Films eine Hommage gewidmet. Der König hat sich überreden lassen, sein Gesicht liften zu lassen, aber als er das Resultat sieht, erschrickt er. Das starre Gesicht, das er vorerst nicht bewegen darf, ist ihm fremd. Als er einer Clownsvorführung zuschaut, bemüht er sich krampfhaft, keine Miene zu verziehen, doch als er sich vor Lachen nicht mehr halten kann, platzt seine Maske. Der Chirurg stellt danach sein natürliches Gesicht wieder her. Das Lachen hat ihn aus der Erstarrung befreit, die eine maskenhafte Gesellschaft ihm auferlegen wollte.