Freitag, 29. März 2024

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Charlotte Wiedemann
"Der lange Abschied von der weißen Dominanz"

Ein Teil des kolonialen Erbes ist weiße Dominanz: in der Weltwirtschaft, in internationalen politischen Gremien, in geschichtlicher Deutung, in der Wissenschaft. Die Journalistin Charlotte Wiedemann fordert dazu auf, sich aktiv davon zu verabschieden.

Charlotte Wiedemann im Gespräch mit Catrin Stövesand | 17.02.2020
Hintergrundbild: Die Journalistin Charlotte Wiedemann Vordergrund: Buchcover
Charlotte Wiedemann: Europa muss ein Lebensgefühl aufgeben, das von Selbstüberschätzung geprägt war und ist. (Foto: privat/ dtv Verlag)
In ihrem Buch "Der lange Abschied von der weißen Dominanz" hat Charlotte Wiedemann im Großen und Ganzen eine zuversichtliche Sicht auf aktuelle Entwicklungen, ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen. Es ist eine Sammlung zu all den Themen und Texten, die sich rund um weiße Dominanz drehen. Gleichzeitig geht es um Veränderungen, etwa um Machtverlust für das alte Europa oder die westliche Welt. Viele Menschen in Europa stünden gewissermaßen mit einem Bein in der Vergangenheit, schildert die Autorin. Es gelte, diesen Schiefstand aufzulösen. Und das werde lange dauern.
Teil dessen sei es, Identitätsmuster zu hinterfragen. Das "wir" könne sich innerhalb kurzer Zeit verändern. So habe es in ihrer Grundschulzeit eine scharfe Trennung zwischen katholischen und evangelischen Kindern gegeben – daran könne man lernen, wie zeitgebunden das ist, was man als trennend empfinde.
Straßenschilder auszutauschen, reicht nicht
Das Bedürfnis nach Überlegenheit, das meist mit Abgrenzung bzw. Ausgrenzung verbunden ist, hält Charlotte Wiedemann nach wie vor für weit verbreitet, wenn auch unbewusst: "Die größte Herausforderung für Europäer und Europäerinnen ist tatsächlich der Abschied von einem Lebensgefühl, in dem die Selbstüberschätzung ein ganz wesentlicher Bestandteil war und ist." Mit der politischen oder wirtschaftlichen Macht europäischer Staaten habe sich auch eine geistige Zentralperspektive verbunden. Die europäische Erfahrung habe eine universelle Geltung beansprucht, und das stecke noch sehr in uns.
Die Welt von morgen werde von Erfahrungen geprägt sein, mit denen im Westen nur wenige vertraut seien. Dessen müsse man sich bewusst werden. Und Charlotte Wiedemann betont: Um sich der kolonialen Vergangenheit zu stellen, reiche es nicht, ein paar Straßenschilder auszutauschen.
"Die Fremden von heute sind stets schlimmer als die Fremden von gestern" – Mit diesem Satz schildert die Autorin in ihrem Buch den Gewöhnungseffekt. Letzter hört in Deutschland allerdings nach wie vor bei der Hautfarbe auf. Schwarze Menschen problemlos als Deutsche anzusehen, falle immer noch Vielen schwer. Allerdings sei dies in jüngeren Generationen schon anders: "Für Kinder in einer Grundschulklasse von heute ist die Vielfalt ein Fakt und keine Option."
"Was nicht verständlich ist, wird abgelehnt"
Unterschiede zu erkennen, ist nicht grundsätzlich schlecht. Charlotte Wiedemann beschreibt jedoch den Zwang in mediengeprägten Gesellschaften, alles durchdringen zu wollen. Es existiere der Reflex: "Alles muss verstehbar sein. Und was nicht verständlich ist, wird abgelehnt." In einer Gesellschaft der Vielheit müsse man lernen, dass auch das Unverstandene, nicht Eindeutige oder nicht so schnell Verstehbare ertragen werden müsse. Und gleichzeitig müsse es Raum dafür geben, dass eine Verhaltensweise als fremd empfunden werden kann, ohne dass das gleich als rassistisch gelte.
Die Autorin befasst sich mit den Beschränkungen für Migration und kommt zu dem Schluss, dass "Europa irrt, wenn es glaubt, sich gegen die Mobilität anderer abschotten zu können, sei sie von Leid getrieben oder von Träumen." Zudem sei die Zeit vorbei, "in der wir das Verhalten anderer Menschen steuern konnten".
Charlotte Wiedemann: "Der lange Abschied von der weißen Dominanz",
dtv, 285 Seiten, 18 Euro.