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Charme der weiten Fläche

Das bunte Touristengewusel auf dem Trümmerfeld des Forum Romanum fällt kaum auf. Mit Wucht prallt der Blick auf die verbliebenen Säulen des Saturn-Tempels im Zentrum der doppelseitigen Farbfotografie und hangelt sich über freigelegte Fundamente und Sockel von einem antiken Gebäuderest zum nächsten. Das Forum Romanum war als ideelles Zentrum der Stadt und des Staates nach dem Vorbild der Athener Agora konzipiert: ein offener Platz, jedem freien Bürger zugänglich und als solcher ein Symbol der römischen Republik, bis Cäsar es für seine politischen Zwecke im Norden und Süden einfrieden ließ.

Martina Wehlte | 28.01.2004
    Als Bühne für Staatsaktionen rund um die Ehrensäule des Kaisers, als gesellschaftlicher Treffpunkt und als Umschlagplatz für Waren (ersichtlich an den Ziegelrohbauten der Trajansmärkte) wurde es zum Bezugspunkt republikanischer und imperialer städtebaulicher Planungen vom Mittelalter bis heute. So eröffnet das Forum Romanum zu Recht ein pompöses Defilee von über dreißig Plätzen in elf europäischen Ländern, die der Fotograf Erhard Hehl und der Kunsthistoriker Rolf H. Johannsen bereist haben. Der Ertrag ihrer gemeinsamen Unternehmungen liegt nun in einem faszinierenden Bild- und Textband bei Gerstenberg vor.

    Schon beim ersten Durchblättern taucht man wehmütig in die eigenen Erinnerungen ein, meint auf den Treppenstufen zur Piazza del Campo in Siena sitzen und an ihren gotischen Palästen entlang spazieren zu können oder sehnt sich an noch unbekannte Orte. Die enorme Anziehungskraft dieser Bilder rührt zum einen von der perfekten architektonischen Inszenierung der ausgewählten Plätze her, zum anderen von der Aufnahmetechnik Erhard Hehls, der ein Meister der Panorama-Fotografie ist. Mit seiner Roundshot-Kamera kann er in einen Aufnahmewinkel von bis zu zweihundert Grad schwenken, was breite Ansichten aus relativ geringer Entfernung ermöglicht. Gerade bei weiträumig umschlossenen Plätzen, deren Wirkung sich nur aus dem architektonischen Gesamtensemble heraus entfaltet, erzielt die fotografische Wiedergabe so eine höchstmögliche Authentizität. Der Betrachter gewinnt den Eindruck, als stehe er selbst auf der Madrider Plaza Mayor und sein Auge taste die strenge, geradezu asketische Architektur der Habsburger ab oder lasse den Blick über die fantastische Barock-Kulisse der Place Stanislas in Nancy schweifen. Ein sicheres Gespür für wirkungsvolle Bildausschnitte, für unter- oder aufsichtige Perspektive tut ein Übriges.

    Der Text steht dem Bild in nichts nach. Rolf H. Johannsen ist ein kongenialer Partner in der Beschreibung. Er verbindet auf ideale Weise inhaltliche Substanz mit einem eleganten, leichtfüßigen Stil. Welche überquellenden Zettelkästen oder voluminösen Dateien waren wohl vonnöten für sein engmaschiges Netz aus kunstgeschichtlichen, archäologischen, historischen und literarischen Informationen? Er offeriert sie im Plauderton, mit kleinen Anekdoten durchsetzt und in kurzen erzählerischen Spannungsbögen. Meistens beginnt seine imaginäre Platzbegehung mit dem unmittelbaren Eindruck auf den Besucher. "Coquette et solennelle", niedlich und feierlich, hatte Charles Baudelaire die Grand-Place in Brüssel genannt, deren schmale Häuser ihn an Spielzeug und Möbel erinnerten. Victor Hugo hingegen fand den Platz "gigantesque". Er hatte das sechzig Meter lange Rathaus im Stil der französischen Gotik mit seinem über neunzig Meter hohen Turm vor Augen und nahm den Platz als Ganzes wahr. Baudelaire, so erläutert der Autor, hob auf die Vergoldungen und kleinteiligen Ornamente der Fassaden ab, die von einem "goût extravagant en architecture" zeugten.

    Ihn selbst, Johannsen, mutet dieses Symbol städtischer Freiheit wie ein großbürgerlicher Salon an. War es früher die Stein gewordene Konkurrenz zwischen kirchlicher und weltlicher Macht, die – etwa in den italienischen Stadtstaaten – imposante Plätze hatte entstehen lassen, so wurde es seit dem sechzehnten Jahrhundert zunehmend das Wechselspiel zwischen feudaler Herrschaftsarchitektur und dem Repräsentationsbedürfnis eines erstarkenden, selbstbewussten Bürgertums. Dass es hierbei bis ins neunzehnte Jahrhundert vielfache Überlappungen und – je nach Land – zeitverschobene Entwicklungen gab, versteht sich von selbst. Die sechs Kapitel, die den chronologisch geordneten Stoff strukturieren, können nur Akzente setzen: etwa auf die klassischen Ideale, denen Andrea Palladio oder die Engländer Richard Nash und John Wood Vater und Sohn folgten, auf die triumphale Geste des Barock oder auf Leo Klenzes Münchner Königsplatz, den sich Ludwig I. von Bayern als eine "mehr oder weniger mit Architektur geschmückte Anlage eines italienischen Gartens" gewünscht hatte. Das Beispiel einer aus der Not geborenen, gleichwohl gelungenen Platzgestaltung gibt die Pariser Place Igor-Stravinsky mit der von Jean Tinguely und Niki de Saint Phalles gestalteten bunten Brunnenanlage von 1981/83.- Und die Zukunft? Sollte sie tatsächlich so aussehen wie der gigantomanische Bürostadt-Platz La Défense, der vor lauter architektonischem Pathos keine Atmosphäre hat und am Wochenende ausgestorben zwischen den Glas-Betonfassaden der Firmengebäude liegt? Einen Proszessionsweg nennt ihn Rolf H. Johannsen, "zu Ehren des Mammon" wollen wir hinzufügen und blättern schnell zurück.

    Plätze Europas
    Panoramafotos von Erhard Hehl. Text von Rolf H. Johannsen
    Gerstenberg, 188 S., EUR 45,-