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Chestertons "Eugenik und andere Übel"
Witzige Geistesschärfe - trotz prekärem Thema

Gilbert Keith Chesterton ist ein Sprachakrobat. Bekannt wurde er durch seine pfiffigen Pater-Brown-Geschichten. Nun ist seine Essay-Sammlung "Eugenik und andere Übel" auf Deutsch erschienen. Eine animierend-radikale Verteidigung des individuellen Eigensinns, meint unser Rezensent.

Von Wolfram Schütte | 14.11.2014
    Chesterton ist immer eine Lektüre wert. Man kann ihn sozusagen "blind buchen" – auch (wie für die meisten bei uns): auf Deutsch. Es gibt sehr gute Übersetzungen – nicht nur von seinen pfiffigen "Pater-Brown"-Geschichten. Sie haben Chestertons Namen bei uns einem Kreis bekannt gemacht, dem er aber oft nur in der Form populärer Pater-Brown-Verfilmungen vertraut wurde.
    Jedoch Gilbert Keith Chesterton ist natürlich wie jeder große Schriftsteller: ein Sprach-Ereignis, auch noch in seinen Übersetzungen. Denn neben der Tatsache, dass er einer der größten Humoristen der gesamten Weltliteratur ist, basiert sein Wort-Witz vornehmlich auf seinem skalpell-scharfen Verstand. Er macht sich - und damit seinen passionierten Lesern – ein Vergnügen daraus, ebenso blitzartig sprachlich zu pointieren wie logisch im Rösselsprung des Paradoxen zu denken. Vor allem in seinen vielen brillanten Essays. In ihnen verteidigt er z.B. den Nonsens, beschreibt er die "Wildnis häuslichen Lebens" oder handelt er "Vom Vorteil eines Beins". Unserem eigenartigen Lichtenberg können wenige literarisch und geistig das Wasser reichen. Chesterton ist einer davon.
    Glücklicherweise sind im letzten Jahrzehnt viele seiner Essay-Sammlungen wieder auf Deutsch vorgelegt worden. Zum ersten Mal aber nun die Sammlung "Eugenik und andere Übel". Übersetzt und annotiert hat sie Frank Jakubzik, herausgegeben und mit einer umfangreichen Einleitung versehen hat sie der Frankfurter Soziologe Thomas Lemke. Solcher wissenschaftlicher Begleitschutz für das 1922 erschienene zweiteilige Buch ist hilfreich, weil Lemke über die Geschichte der Eugenik nicht nur zu Chestertons Zeit in Großbritannien informiert, sondern die polemische Auseinandersetzung des Autors auch im Lichte jüngster eugenischer Debatten betrachtet. Sybille Lewitscharoff täte gut daran, das gehaltvolle Büchlein ihres eigenen Verlags nachträglich zu lesen – um zu sehen, wie man kritisch mit dem prekären Thema umgehen kann, ohne blamabel sich dabei um Kopf und Kragen zu reden.
    Dabei lässt Chesterton kein gutes Haar an den zahlreichen einflussreichen Eugenikern und der weitverbreiteten eugenischen Diskussion seiner Zeit. Denn bevor die Eugenik durch die nazistischen Massenmorde an "lebensunwertem Leben" bis heute in einen denkbar schlechten Ruf geriet, gehörte die Idee einer kollektiven "Verbesserung der Menschheit" durch gezielte Eingriffe in die biologische Fortpflanzung zu den vielfach diskutierten Wunschträumen der europäischen Moderne: sowohl auf der politischen Rechten wie auf der Linken, selbst die katholische Kirche freundete sich damit an.
    Verteidigung des Eigensinns
    Chestertons fundamentale Kritik an der Eugenik entzündet sich an einem Gesetz von 1914. Im "Mental Deficiency Act" wird der Wahnsinn nicht klar genug definiert, sodass potenziell "alle Menschen unter die Kuratell der Irrengesetze" gestellt und leichter weggesperrt werden können.
    Wie ahnungsvoll Chesterton die Gemeingefährlichkeit einer solchen medizinischen Verfügungsgewalt erkannte, offenbarte jüngst der bayrische Justizskandal des in die Geschlossene Psychiatrie verbrachten unschuldigen Gustl Mollath. Auch das offenkundige Zusammenspiel von Justiz, Politik und Psychiatrie in Bayern folgte für diesen individuellen Fall einer Logik, die Chesterton in seiner Zeit als kollektive Bedrohung der armen ausgebeuteten Klassen durch die politische Elite der Reichen am Werk sieht. So klassenkämpferisch diese Behauptung erscheinen mag, der Soziologe Thomas Lemke bestätigt sie als historischen Befund. Dabei war Chesterton kein Freund des Sozialismus oder gar des Marxismus.
    Jedoch die Essays über "Eugenik und andere Übel" sind nicht wegen ihrer konkreten Kritik am britischen Zeitgeist als historische Belege eines entschiedenen Einspruchs für heutige Leser von Interesse. Lemke sieht Chestertons entschiedenen Einspruch gegen die Eugenik strukturell in nächster Nähe zu Foucaults "biopolitischen" Thesen über die Disziplinierung des Individual- und die Regulierung des Bevölkerungskörpers. Ich finde aber als heutiger Leser noch ein entscheidendes Moment, das Chestertons Auseinandersetzung mit der Eugenik – über das Entzücken an seiner witzigen Geistesschärfe hinaus – absolut gegenwärtig macht. Das ist – im Zeitalter elektronischer Überwachung und erwünschter Konformität – seine animierend-radikale Verteidigung des je individuellen Eigensinns.
    Gilbert Keith Chesterton: "Eugenik und andere Übel". Herausgegeben und mit einer Einleitung von Thomas Lemke. Aus dem Englischen und mit Erläuterungen von Frank Jakubzik. edition unseld , Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 280 Seiten, 20.60 €