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Chile
Neue Bürgerbewegung prägt den Wahlkampf ums Präsidentenamt

Seit 2014 regiert ein linksliberales Bündnis das schmale Land in Südamerika. Und in der Zeit wurde die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer trotz guter Wirtschaftszahlen. Bei den Präsidentschaftswahlen im November tritt ein neues politisches Bündnis an, das schon mit der spanischen Podemos-Bewegung verglichen wird.

Von Sophia Boddenberg | 17.06.2017
    Beatriz Sanchez bewirbt sich als Kandidatin der neuen Bewegung Frente Amplio für die chilenische Präsidentschaftswahl im November
    Beatriz Sanchez bewirbt sich als Kandidatin der neuen Bewegung Frente Amplio für die chilenische Präsidentschaftswahl im November (imago)
    "Die Vorschläge und die Ideen hier sind ein Ausdruck der chilenischen Linken. Einer Linken, die lange verloren war und kein Profil hatte. Dieses Treffen bringt sie erneut zum Vorschein diese Linke, die geschlafen hat. Jetzt gibt es wieder Träume. In diesem Land, das so lange keine Träume hatte, aber sich nach Träumen gesehnt hat. Und darin besteht die große Kraft des Frente Amplio."
    Raúl ist um die 60 Jahre alt, hat eine Halbglatze und trägt einen Fleece-Pullover. Er wohnt im Zentrum von Santiago de Chile. An diesem Abend nimmt er am Programm-Treffen des Frente Amplio teil. Dabei diskutieren über 100 Bürger über das politische Programm für die Präsidentschaftswahlen im November.
    Seit dem Ende der Militärdiktatur Pinochets im Jahr 1990 haben sich in dem lateinamerikanischen Land zwei politische Koalitionen an der Regierung abgewechselt. Das Mitte-Links-Bündnis Nueva Mayoría, das aktuell regiert und das rechts-konservative Bündnis Chile Vamos, das den Ex-Präsidenten Sebastian Piñera in diesem Jahr erneut als Kandidaten aufstellt. Das Frente Amplio will diesem Zwei-Koalitionen-System ein Ende setzen.
    Gruppendiskussionen im Stuhlkreis
    In der Gruppe "Gesundheit" diskutieren die Teilnehmer über ein gerechtes Gesundheitssystem. Es gibt mehrere Themen-Gruppen: Bildung, Arbeit, Verfassung, Gesundheit, Migration und Menschenrechte, Wissenschaft und Innovation, Kultur, Stadt und Territorium. Die Gruppen sitzen in Stuhl-Kreisen in der Aula einer Grundschule im Zentrum Santiagos. Santiago Centro ist ein "núcleo territorial" des Frente Amplio, ein regionaler Standpunkt. Die Ergebnisse dieser Diskussionen in verschiedenen Städten Chiles sind die Grundlage für das Koalitionsprogramm, mit dem das Frente Amplio in den Wahlkampf starten will. Bürgernähe ist besonders wichtig.
    Die chilenischen Studenten protestieren in den Straßen für kostenlose Bildung. Heute genauso wie im Jahr 2011, als die Studentenbewegung ihren Höhepunkt hatte. Doch wenig hat sich geändert, allerdings war die Studentenbewegung der Ausgangspunkt des Frente Amplio.
    Politik wie ein Spielfeld
    Auch Rodrigo Echecopar war in der Bewegung aktiv. Heute ist er Vorsitzender der Partei "Revolución Democrática" (Demokratische Revolution), eine der zwölf Parteien und Bewegungen, die zum Frente Amplio gehören. Rodrigo ist jetzt Ende 20 und wirkt noch etwas unsicher in seiner Rolle als Parteichef. Er vergleicht die Politik in Chile mit einem Spielfeld, auf dem bisher immer die gleichen Spieler gespielt haben.
    "Es sind immer die gleichen an der Macht, die sich untereinander kennen. Es ist eine Politik der Elite. Die Wahrscheinlichkeit, etwas zu verändern ist gering, weil das Spielfeld der Politik sehr klein ist. Es ist ein Spielfeld, das durch Wirtschaftsinteressen begrenzt ist. Durch die Elite, die den Status Quo nicht verändern will. Unter diesen Umständen lädt das Frente Amplio die Bürger ein, wieder an der Politik teilzunehmen."
    Erste Erfolge bei Kommunalwahlen
    Die Bewegungen und Parteien, die zum Frente Amplio gehören, schlossen sich im August 2016 zusammen, um bei den chilenischen Kommunalwahlen eine Alternative zu bieten. Und sie hatten Erfolg. Aus den Kommunalwahlen ging der Bürgermeister der wichtigen Hafenstadt Valparaíso, Jorge Sharp, hervor. Er gehört zum "Movimiento Autonomista" zur autonomistischen Bewegung. Constanza Schönhaut ist ihre Generalsekretärin Sie ist 28 Jahre alt und studiert Jura, trägt ein Nasenpiercing und roten Lippenstift. Sie erklärt, warum das "Movimiento Autonomista" eine Bewegung und keine Partei ist.
    "Wir haben uns dagegen entschieden, eine Partei zu gründen, weil wir als Bewegung mehr Freiheit haben, um Politik zu machen. Als autonomistische Bewegung wollen wir Räume schaffen, in denen wir außerhalb des institutionellen Rahmens handeln."
    "Alternative aus den sozialen Bewegungen entstanden"
    Constanza Schönhaut meint, dass man den Entstehungsprozess des Frente Amplio mit dem Entstehungsprozess von Podemos in Spanien vergleichen kann.
    "Es gibt Ähnlichkeiten in der Geschichte. Es ist eine neue Alternative aus den sozialen Bewegungen entstanden, die mit einer breiten Bürgerbeteiligung Veränderungen voranbringen will. Dabei geht es nicht mehr um links und rechts, sondern um Grundrechte, um Demokratie und um die Verteilung von Reichtum und Macht. Aber die Krise in Spanien entstand, weil Sozialleistungen und Grundrechte gekürzt wurden. In Chile gab es die noch nie."
    Was das Frente Amplio nicht hat
    Octavio Avendaño ist Politikwissenschaftler der Universidad de Chile. Er meint, dass die größte Herausforderung für das Frente Amplio die geringe Wahlbeteiligung ist. Denn besonders die jungen Menschen, die das Frente Amplio anspricht, stellten sich in Umfragen hinter das Bündnis, aber, so der Politologe, es sei unsicher, ob sie am Wahltag auch abstimmten:
    "Alles wird davon abhängen, die Wähler zu mobilisieren und diejenigen zu erreichen, die an den letzten Wahlen nicht teilgenommen haben. Denn die Parteien der Regierung haben etwas, was das Frente Amplio nicht hat. Sie haben die Möglichkeit, finanzielle Mittel zu mobilisieren. Weil sie in der Regierung sind. Und die rechten Parteien können auch Mittel mobilisieren, weil sie mit dem Unternehmer-Sektor verknüpft sind."
    Bis zur Wahl in Chile sind es noch einige Monate hin. Im Wahlkampf kann noch viel passieren. Klar ist, dass die traditionelle Politik weltweit und in Chile mit einer Vertrauenskrise zu kämpfen hat. Ungewiss bleibt, wie die Bürger darauf reagieren. Octavio Avendaño meint, dass fast alles möglich ist.