Dienstag, 19. März 2024

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Chilly Gonzales
Ein musikalisches Schattenspiel

Wenn die Vorstellung des Musikers Chilly Gonzales beginnt, wird der Zuschauer in eine rauschhafte und gruselige Welt mitgenommen. In Hamburg verwandelt Gonzales Andersens Märchen "Der Schatten" in ein Schattenspiel, dass Realitäten zeitweise verwischen lässt.

Von Alexander Kohlmann | 07.08.2014
    Auf einer dunklen Bühne steht ein altmodischer Musik-Pavillon, in dem ein kleines Orchester sein Quartier aufgeschlagen hat. Nur der Platz am Piano bleibt bis zum Beginn der Vorstellung leer. Es ist der Platz des Meisters. Der Platz von Chilly Gonzales, der wie ein Dirigent auf die Bühne kommt und unter tosendem Applaus zu spielen beginnt.
    Bereits während der ersten Takte der Partitur wirft das Licht plötzlich einen überlebensgroßen Schatten. Es ist der Schatten von Chilly Gonzales, der in Kampnagel einmal nicht als Showmaster, sondern als seriöser Pianist auftritt. Eine neue Seite dieser Kunstfigur, die Jason Charles Beck, wie Gonzales mit bürgerlichem Namen heißt, geschaffen hat.
    Und während man noch überlegt, ob jetzt der Schatten oder Gonzales selber dieses geisterhafte Orchester antreibt, entsteht vor unseren Augen eine Welt, die an das Set eines Stummfilms erinnert. Rechts und links, neben Gonzales Konzert-Pavillon, sind zwei Leinwände aufgebaut. Auf denen wird, erst als Schattenspiel, dann auch mit Menschen aus Fleisch und Blut, Andersens Märchen zu einer greifbaren Wirklichkeit.
    Andersens Märchen ohne Worte
    Jene Geschichte von einem Gelehrten, der seinen Schatten erst verliert, und dann, als dieser eines Tages wieder vor seiner Tür steht, von ihm beherrscht wird. Beherrscht von jener dunklen Seite seiner Persönlichkeit, die, ganz in Schwarz gekleidet, fast genauso aussieht, aber doch erkennbar von einer Frau getanzt wird.
    Schemenhafte, weibliche Formen, Sinnlichkeit und Sex, die verdrängten Sehnsüchte eines Menschen, der sich lange vergeblich bemühte, diese Leidenschaften von sich abzuspalten. Und jetzt von ihnen beherrscht wird. Kein Wort sprechen diese Figuren und doch meint man in ihren ausdrucksstarken Gesten die Worte zu hören, die als ornamentierte Tafeln auf den beiden Leinwänden eingeblendet werden. Die Realitäten verschwimmen zwischen dem Kampf des Schattens mit seinen Herren vor dem Musikpavillon und den Schattenspielern hinter den Leinwänden.
    Mit Gonzales Schatten-Komposition verhält es sich wie mit dem von ihm vor kurzem veröffentlichtem Übungsbuch für Klavierschüler. Nichts von dem, was wir auf der Bühne hören und sehen, ist wirklich neu und unbekannt, aber die Komposition der bekannten Elemente versetzt den Zuschauer in ein rauschhaftes und auch ein wenig gruseliges Vergnügen.
    Wo sitzt mein eigener Schatten, fragt sich unwillkürlich, wer den Kampf des Gelehrten mit jener schwarz gekleideten Gestalt verfolgt, die all seine unterdrückten Sehnsüchte verkörpert. Und damit so vital und lebensfreudig aussieht, dass die angebetete Prinzessin viel lieber mit dieser Version des eigenen Selbst einen erotischen Walzer tanzt, als mit dem braven Bücherfreund.
    Ob damit wie im Märchen das Böse triumphiert, lassen Chilly Gonzales und sein Regisseur Adam Traynor bewusst offen. Es könnte in ihrer Version auch sein, dass diese vitale, weibliche Schattentänzerin tatsächlich die lebensfähigere Version des blutleeren Wissenschaftlers ist. Und hier beide Teile eines Ich zu einer neuen, starken Persönlichkeit zusammenfinden.
    Als Gonzales jedenfalls ganz zum Schluss den Musikpavillon verlässt und mit einer Art Handpiano durch diese faszinierende Geisterwelt schreitet, wirft sein massiger Körper auf der Bühne einen großen, dunklen Begleiter. Und wir wissen immer noch nicht, ob die Kunstfigur Chilly Gonzales nun der Herr oder nur sein überlebensgroßer Schatten ist.