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China funktioniert

Es gibt Länder auf dem Globus, in denen Geschichte im Schneckentempo daherkommt. In der Volksrepublik China marschiert sie in Sieben-Meilen-Stiefeln – vielleicht sogar schneller. Maos Enkel surfen im Internet - oder verdingen sich als Wanderarbeiter auf den Baustellen einer boomenden Weltmacht.

Von Ruth Kirchner | 12.10.2009
    Journalisten, die Bücher über China schreiben, gibt es viele. Die meisten Werke sind eher bunt und reportagehaft. Petra Kolonko, langjährige Pekingkorrespondentin der FAZ, ist einen ganz anderen Weg gegangen. Ihr Buch, "Maos Enkel. Innenansichten aus dem neuen China", widersetzt sich dem Trend. Sie erzählt keine Geschichten, sondern erklärt sachlich, wie China funktioniert. Wie die alleinherrschende Kommunistische Partei aufgebaut ist, wie sich China langsam von einer ländlichen zu einer urbanen Gesellschaft entwickelt. Warum so viele Chinesen die Religion entdecken oder warum es Bürgerinitiativen immer noch so schwer haben.

    Chinesische Umweltschützer und Aktivisten können ein Klagelied von Einschüchterung und Schikane durch die örtlichen Behörden singen. Im besten Fall bieten diese Schweigegelder. Oft jedoch wird ihnen mit Gewalt gedroht, werden sogar Schläger gedungen. Sogar die Inspektoren der Umweltbehörden selbst sehen sich Feindseligkeiten ausgesetzt.
    Kolonkos Stärke ist die beschreibende Analyse. Mit großer Präzision seziert sie die chinesische Gesellschaft – und beantwortet viele jener Fragen, die im schnelllebigen Nachrichtengeschäft zu oft offenbleiben. Wie ist es denn nun mit der Ein-Kind-Politik? Welche Ambitionen hat die neue Mittelschicht? Und warum fordern jene, die zu bescheidenem Wohlstand gekommen sind, nicht längst mehr Demokratie? Die Mittelschicht, schreibt Kolonko, sei kein revolutionäres Potenzial.

    Im Gegenteil ist in der Mittelschicht ein Gefühl weit verbreitet, das die Herrschaft der Kommunistischen Partei durchaus stabilisiert. Man ist nationalstolz. Wenn aus dem Ausland Kritik an China geäußert wird, so sind es die Städter, die ihre Regierung in Schutz nehmen. Die Bürger der Volksrepublik können zum ersten Mal seit Jahrzehnten auf Macht und internationale Stellung ihres Staates stolz sein. Sie sehen sich erstmals auf Augenhöhe mit den Bürgern der Industriestaaten. Weil dieses Nationalbewusstsein aber noch jung ist, reagiert es besonders empfindlich auf Kritik aus dem Ausland.
    Kolonkos Stärke ist, dass sie als genaue Beobachterin der chinesischen Befindlichkeiten nie die Distanz verliert. Sie hält zudem Balance – etwa zwischen der berechtigten Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder der massiven Umweltzerstörung und dem Respekt vor der Entwicklungsleistung der vergangenen Jahrzehnte. Sie traut sich auch, Zukunftsfragen zu stellen, ohne gleich fertige Antworten bereitzuhalten. Damit hebt sie sich wohltuend ab von jenen China-Kommentatoren, die immer schon alles gewusst haben wollen.

    Kolonko hält tiefgreifende Reformen letztendlich für unausweichlich, um die Probleme - etwa die grassierende Korruption - in den Griff zu bekommen. Aber eine politische Öffnung Chinas sei derzeit wenig wahrscheinlich, meint sie. Denn im Zuge der globalen Wirtschaftskrise habe der ausländische Druck auf China abgenommen, während innenpolitisch die sozialen Spannungen steigen. Das, sagt Kolonko, habe die Reformbereitschaft der chinesischen Führung deutlich verringert.

    In dieser Situation greift die Partei lieber auf die alten Methoden der Herrschaftssicherung zurück. Politische Reformen "von oben" kommen nicht auf die Agenda, bestenfalls werden sie auf eine sehr lange Bank geschoben. Die Kommunistische Partei wird Wahlen erst dann zulassen, wenn sie sicher sein kann, dass sie sie gewinnen wird.
    Petra Kolonkos Buch ist lesenswert, es erklärt anschaulich die Bedingungen, unter denen sich China in die Moderne katapultiert – und welchen Preis es dafür zahlt. Wer lieber ganz dicht dran ist, wer wissen will, wie es sich anfühlen kann, in dieser Gesellschaft zu leben und möglicherweise zu scheitern, findet Antworten bei Liao Yiwu. Der Schriftsteller aus der südwestchinesischen Provinz Sichuan hat über Jahre Gespräche geführt mit Menschen, die in China sonst nicht gehört werden: Prostituierte, Bettler und Straßenmusiker, ehemalige Rotgardisten, Leichenwäscher, Menschenhändler und Leute, die in der Todeszelle auf ihre Hinrichtung warten. In "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten", gibt er diesen Menschen eine Stimme, lässt sie ausführlich erzählen von ihrem Leben, ihrem Alltag und vor allem von ihrer Vergangenheit. Herausgekommen sind zunächst einmal spannende Geschichten. Etwa wenn der Tresorknacker und Ausbrecherkönig in der Todeszelle erst von seiner dramatischen, filmreifen Flucht erzählt und dann über sein Leben sinniert:

    Ich denke oft an die Flucht vor zwei Jahren, das war absolut grandios. Aber der Mensch kann seinem Schicksal nicht entfliehen. Ich war zwar physisch frei, aber innerlich war ich es nicht, das war mein Schicksal. Obwohl ich unserer Gesellschaft unendlich viel verdanke, habe ich mit dem gestohlenen Geld nie jemandem geholfen, der dieses Geld hätte brauchen können. Zum Beispiel Kindern, die sich keine Schule leisten können. Was ist da für ein Unterschied zu korrupten Beamten?
    Die Geschichte des Ausbrecherkönigs hat kein Happy End. Wie überhaupt Liao Yiwus Buch wenig Anlass zu Optimismus bietet. Es ist viel von der jüngeren Geschichte Chinas die Rede, die in der Volksrepublik nach wie vor nicht offen diskutiert werden darf, von den Auswirkungen der teils absurden Kampagnen Mao Zedongs, die Millionen von Menschen das Leben kosteten. Von Gewalt und Hunger, vom Chaos der Kulturrevolution, von den unverheilten Narben einer einst brutalisierten Gesellschaft. Der Schatten eines übermächtigen Systems, das Dissens nicht duldet, ist allgegenwärtig. Da ist der sorglose und parteitreue Geschäftsmann, der am 4. Juni 89 zufällig aus seinem Hotelfenster blickt und Zeuge des Massakers an den Studenten wird. Weil er das Gesehene nicht verschweigen oder verleugnen kann, wird er schließlich als Konterrevolutionär vor Gericht gestellt.

    Ich konnte nur zugeben, dass durch mein Verhalten das Ansehen der Partei und des Staates Schaden genommen hat. Was die "Tatsachenverfälschung" und die "Verbreitung von Gerüchten" anging, so war das eine reine Verleumdung meiner Person. Bevor ich in den Knast kam, dachte ich noch Konterrevolutionäre seien so, wie es in den Romanen steht: eine kleine Gruppierung, die nur Böses im Schilde führt und von der Restauration des Kapitalismus träumt. Aber als ich dann drin war, gingen mir die Augen auf. Diese sogenannten "Politischen" waren an Normalität nicht zu überbieten.
    So wie hier entlarven viele der Interviews von Liao Yiwu die Absurdität des Einparteienstaates, den Mangel an Rechtsstaatlichkeit und den Einfluss der Partei in allen Lebensbereichen. Es ist der einfühlsamen, manchmal witzigen Gesprächsführung des Autors zu verdanken, dass die Menschen bereit sind, sich zu öffnen, und dass neben ihren oft tragischen Schicksalen auch ihr Lebensmut und ihre Menschlichkeit deutlich wird. Dadurch lernen wir ein China kennen, das man sonst nur selten zu Gesicht bekommt.
    Wegen der politischen Brisanz der Interviews, verwundert es nicht, dass Liao Yiwus Geschichten aus China, die so gar nicht in das offizielle Bild einer harmonischen Gesellschaft passen, nach ihrem Erscheinen in der Volksrepublik sofort verboten wurden. Zur Buchmesse nach Frankfurt kann Liao Yiwu trotz Einladung aus Deutschland im Übrigen nicht reisen. Die Behörden verweigern ihm seit Jahren die Ausreise.
    Ruth Kirchner rezensierte das Buch von Petra Kolonko: "Maos Enkel. Innenansichten aus dem neuen China", Verlag C.H. Beck, München 2009, Euro 19,90, ISBN 978-3-406-59132-7; und außerdem das von Liao Yiwu verfasste Werk "Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, Euro 22,95, ISBN 978-3100448125.