Donnerstag, 28. März 2024

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China in einer anderen Sicht

Der Fotobildband "Humanism in China - A Contemporary Record of Photography" ist der Katalog einer Ausstellung, die derzeit durch verschiedene deutsche Städte tourt und fast 600 Fotos von 250 Fotografen aus über 50 Jahren zeigt. Die Dokumentarfotografen haben ein Stück chinesische Geschichte geschrieben: Nichts romantisch komponiert, nichts geschönt, niemand in Pose gesetzt.

Von Simone Hamm | 29.11.2006
    Erschrocken hält sich der Mann die Hand vor den Mund. Er betrachtet das Foto einer barbusigen Frau. Traurig blickt der Fischer auf die Wasseroberfläche. Sie ist bedeckt mit den aufgedunsenen Leibern toter Fische. Verzweifelt zieht eine attraktive Frau an ihrer Bluse. Sie steht in einem Pulk von Menschen vor der Börse. Sie hat alles verloren. Neugierig sind die Verkäuferinnen auf die Vitrinen gestiegen und blicken nach draußen. Auf der anderen Straßenweite steigt eine große Party. Konzentriert stehen die Kinder auf einem Hügel und beobachten den Bau einer neuen Schnellstrasse. Die Berge hinter ihnen wirken in ihren verschiedenen Grautönen wie gemalt. Ganz sicher gehört dieses Foto von An Go zu den Höhepunkten des Fotobildbandes: "Humanism in China - A Contemporary Record of Photography". Es ist der Katalog einer Ausstellung, die derzeit durch verschiedene deutsche Städte tourt. Fast 600 Fotos von 250 Fotografen aus über fünfzig Jahren sind zu sehen und sie zeigen ein China, wie wir es noch nie gesehen haben: die Dokumentarfotografen haben ein Stück chinesische Geschichte geschrieben. Da ist nichts romantisch komponiert, nichts geschönt, niemand in Pose gesetzt. Endgültig vorbei ist die Zeit, als die Politik Macht über die Bilder hatte, die Zeit, als Fotografie bloßes Werkzeug der Politik war, als junge Bannerträger, glückliche Volksmassen und KP Führer in Szene gesetzt wurden.

    Im ausführlichen und sehr informativen Textbuch zum Katalog, das "ein fotografisches Portrait" betitelt ist, gehen fast alle Autoren auf diese Zeit ein, schildern jeweils aus ihrer ganz persönlichen Sicht die Geschichte der chinesischen Dokumentarfotografie. Und sie erzählen, wie gute und geschickte Fotografen die Politinszenierungen unterlaufen konnten.

    Der Fotograf Wu Zhengzhong spielt mit einer solchen Inszenierung. Auf seinem Foto ist eine alte Frau in einem Park zu sehen. Ihre Kinder haben sie auf einen Papierkorb gestellt und halten sie an den Beinen fest. Ihr Oberkörper ist von Kirschblüten umkränzt. Offiziell wird nur dieser Ausschnitt fotografiert werden. In ihr Fotoalbum wird sie später ein romantisches Foto kleben: alte Dame mit Kirschblüten. In Hunderttausenden von Fotoalben wird ein ähnliches Foto zu sehen sein. Doch neben diesem offiziellen Foto, dieser offiziellen Geschichte, gibt es noch eine andere, jenseits des Fotoausschnittes, nämlich das Foto, dass die die ganze Geschichte erzählt. Basis der alten Frau ist ein Papierkorb, Stütze sind die Hände ihrer Kinder.

    "Humanism in China" zeigt, dass es in all den Jahren chinesische Fotografen gab, die sich zum Motiv das nahmen, was lange Jahre offiziell verpönt war: das Individuum. Menschen, immer wieder Menschen sind zu sehen: Straßenmusikanten vor einer Tempelmauer, ein Liebespaar auf einer Brücke in Shanghai, Kinder, die in engen Gassen toben. Und auch die Menschen, die es im offiziellen früheren China nie gab: Kinder in Lumpen, die auf den Feldern helfen, das autistische Kind, das sich an seine Betreuerin schmiegt, apathisch wirkende junge Drogensüchtige in einer Klinik, der Mann ohne Beine, der unter der Obhut einer christlichen Krankenschwester ein Bad nimmt. Seine Prothesen liegen am Seeufer.

    In vier Themenblöcke gliedert sich der Bildband: Existenz, Beziehung, Begehren und Zeit. Existenz, das sind Chinesen im Alltag, bei der Arbeit: Kinder, die Kohle einsammeln, Männer, die ihr Hab und Gut über eine Brücke tragen, Bauarbeiter in schwindelerregenden Höhen, Männer, die Säcke schleppen.

    Beziehung, das reicht vom Liebespaar auf der Wiese über eine Gruppe Lumpensammler, die, die Kiepen auf dem Rücken, darauf warten, dass der Mülllaster seine Fuhre ablädt bis zu einer ältlichen Lehrerin, die einige ihrer vierzig Katzen füttert.

    Begehren, das sind Sehnsucht, Lust und Melancholie, das ist die Silhouette einer Frau im Rotlichtmilieu, das ist ein Tibeter mit Gebetsmühle vor nebelverhangenen Bergen, oder auch ein ganzes Dorf, das wie gebannt in den einzigen Fernseher schaut.

    Zeit, das ist China, zwischen 1951 und 2003. Was hat sich verändert, was ist geblieben? Die 2001 fotografierte Praxis eines Barfußarztes mit der Maostatue hätte vor fünfzig Jahren genauso aussehen können. Auf das riesige, dicke Schwein wären die Bauern heute noch genauso stolz wie vor dreißig Jahren. Aber ein Straßenkehrer hätte damals nicht hunderte von weißen Plastiktüten aus den Bäumen und von der Erde klauben müssen.

    Die Bilder erschließen sich auch dem westlichen Betrachter sofort - in ihrer Schönheit wie in ihrer Widerborstigkeit. Wir sehen nicht unbedingt das China, das wir erwarten. Die meisten Bilder zeigen Bauern in ihrer ländlichen Umgebung, die ein hartes Leben führen. Und noch etwas zeigen sie, dass nämlich die allermeisten dieser Bauern arm waren und arm sind. Es sind zurückhaltende Fotografien, sie heischen nicht nach Effekten, sie sind nicht schrill, sie wollen nicht provozieren. Sie nähern sich ihren Protagonisten vorsichtig. Viele sind Schwarzweißfotografien und deshalb umso eindrücklicher. Meistens blicken uns ernste Menschen an. Ausgerechnet eine Gruppe von Waisenkindern, deren Eltern an AIDS gestoben sind, singt fröhlich - und farbig.

    Ein Foto aber fehlt in der Ausstellung und im Fotoband "Humanism in China", jenes Bild, auf dem ein junger Mann einen Panzer stoppte, indem er einfach stehen blieb, damals auf dem Tien An Men Platz am 4. Juni 1989. Soweit durften die Kuratoren der Ausstellung nicht gehen. Das Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens kommt nicht vor.


    Humanism in China - A Contemporary Record of Photography. Preface by Wang Huangsheng. Edition Braus im Wachter Verlag. 568 Seiten.

    "Humanism in China - Ein fotografisches Portrait. Edition Braus im Wachter Verlag. Deutscher Textband. 83 Seiten.