Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


China quält

China tut sich schwer mit der Aufarbeitung der Mao-Ära, als man mit Regimegegnern kurzen Prozess machte. Der chinesische Schriftsteller Yang Xianhui hat einige der Häftlinge von damals aufgespürt, sich ihre Leidensgeschichte erzählen lassen - und ein bewegendes Buch geschrieben.

Von Silke Ballweg | 12.10.2009
    Da ist zum Beispiel die Frau aus Schanghai. Sie steht eines Tages am Eingang der kleinen Felsenhöhle, in der gut zwanzig Lagerinsassen hausen und will ihren Mann besuchen. Der aber ist eine Woche zuvor an Erschöpfung und Hunger gestorben. Als die Frau vom Tod ihres Mannes erfährt, bittet sie einen Häftling, ihr zu zeigen, wo der Leichnam begraben ist. Sie wolle ihren Ehemann einmal noch sehen, sagt sie. Der Angesprochene aber druckst herum und sagt einem anderen schließlich, warum er nicht will, dass die Frau den Toten sieht:
    "Jemand hat ihm das Fleisch von den Knochen geschnitten."
    "Wirklich?"
    "Wenn Du mir nicht glaubst, geh hin, warum sollte ich euch anlügen?"
    "Wer hat das getan? Welcher Scheißkerl macht so etwas Perverses?" brüllte Chao Chongwen. "Wei Changhai, warst Du das?"

    In den 90er-Jahren hat der chinesische Schriftsteller Yang Xianhui in seiner Heimatprovinz Gansu mehr als 100 Überlebende des Arbeitslagers Jiabiangou ausfindig gemacht und mit ihnen über ihre Zeit während der Hungerkatastrophe in dem Straflager gesprochen. Anhand der Interviews schrieb Yang anschließend rund zwanzig Geschichten, sieben davon wurden nun erstmals ins Deutsche übertragen. In der ersten Erzählung mit dem Titel "Ankunft in Jiabiangou" schildert der Autor, wie es dazu kam, dass die Männer in den 50er-Jahren in die Lager gesperrt wurden. Yang erzählt, wie Qi Yuequan, der doch ein Anhänger Maos ist, zu einem Rechtsabweichler abgestempelt wird. Er folgt zunächst dem Aufruf der Partei während der Hundert-Blumen-Bewegung und kritisiert Parteibeschlüsse, aber auch das Verhalten des örtlichen Parteisekretärs Qin:

    Als Kreisparteisekretär, als höchster Vertreter der Partei in Jinta, sollte er auf seinen Lebensstil achten und sein Verhalten überprüfen. Unter den einfachen Leuten kursiert derzeit folgender Spruch: Wenn Parteisekretär Qin in die Dörfer kommt, müssen alle Frauen dran glauben. Gibst du ihm eine verheiratetet Frau, will er auch noch ein junges Mädchen. Wenn Qin als Vertreter der Partei nun in die Dörfer geht, um es mit einer Frau zu treiben, ja sogar mit zweien, wo ist da der Unterschied zu den Despoten im alten Regime?

    Kurz darauf wird Qi Yuequan von diesem Parteisekretär aber als politischer Abweichler bezeichnet, also als einer, der von der offiziellen Parteipolitik abgefallen ist. Damit rächt sich der Parteisekretär offensichtlich für Qis Kritik an seiner Person.

    "Qi Yuequan, wie alt bist du eigentlich?"
    "24 Jahre"
    "Du kommst mir nicht wie ein 24-Jähriger vor. In deinen jungen Jahren hast du schon alles erreicht."
    Qi erstarrte.
    Du bist im Kreis Jinta auf dem Höhepunkt deiner Karriere angelangt", fuhr Qin fort, "und jetzt fällst du mir in den Rücken. Ist dir klar, was das für dich bedeutet?"


    In seinem Eingangstext macht Yang Xianhui somit nicht die Kommunistische Partei Chinas dafür verantwortlich, dass Kritiker wie Qi Yuequan im Laufe der Hundert-Blumen-Bewegung selbst angegriffen wurden. Bei ihm trägt vielmehr eine einzige Person daran die Schuld, nämlich der Parteisekretär, der die Kritiker in seiner Umgebung aus persönlichen Gründen zum Schweigen bringt. Yang Xianhui lässt die direkte Kritik an der Partei also außen vor und hat die historische Rolle der Kommunistischen Partei möglicherweise mit Blick auf die Zensur verschwiegen. Denn hätte er die Partei offen kritisiert, wäre sein Buch in China wahrscheinlich verboten worden. So aber wird es bis heute gedruckt.

    Die meisten Texte von Yang beschäftigen sich nicht mit den politischen Hintergründen der Hundert-Blumen-Bewegung in den fünfziger Jahren, sondern mit dem Hunger, unter dem die Insassen in den Straflagern damals litten. Immer wieder beschreibt Yang, wie sie aufgrund der Hungersnöte verzweifelt nach Nahrung suchen.

    Einmal am Tag gab es eine Portion Gemüsedampfbrot und eine Portion Brei. Der Nährwert war so gering, dass nun erst recht das große Sterben ausbrach. Um die Zahl der Todesfälle zu reduzieren, ergriff die Leitung Sondermaßnahmen. Die Arbeit der Rechtsabweichler wurde ausgesetzt. Es war ihnen nun erlaubt, während der Arbeitszeit Grassamen zu sammeln, Mäuse und Regenwürmer zu fangen, um ihren Hunger zu stillen, oder einfach in der Höhle zu dösen. Wir alle fingen damals Nagetiere in der Umgebung und aßen alle Weiden- und Ulmenblätter auf.
    Aber nur jeder Vierte überlebte damals die Katastrophe, die meisten verhungerten.

    Anfangs brachte man die Toten hinter die Dünen, aber jetzt starben zu viele, und die Kräfte derer, die für die Beerdigungen ebenfalls zuständig waren, ließen ebenfalls nach. Also vergrub man die Toten in einem Sandhügel direkt hinter dem Haus.
    Yang Xianhui hat keine systematische Analyse der chinesischen Straflager geschrieben. Er widmet sich auch nicht der Frage, warum eine halbe Million Menschen als Rechtsabweichler angeklagt und viele von ihnen in Straflager gesperrt wurden. Und doch stellt Yangs Buch in China eine kleine Sensation dar, vor allem wegen seiner detaillierten Beschreibung des Hungers. Denn er setzt mit seinen Erzählungen den Opfern der politischen Willkür ein literarisches Denkmal, schildert er doch einzelne Menschen und ihr Schicksal. Das ist umso wichtiger, als die Hungertoten damals vertuscht werden mussten und über sie und ihr Leid in den Straflagern auch heute nicht offen berichtet werden darf.

    Silke Ballweg über Yang Xianhui: "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou. Berichte aus einem Umerziehungslager", edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, Euro 16,00, ISBN: 978-3518125915.